Im Wettbewerb um die öffentliche Meinung
Theologin Judith Könemann über kirchliche Positionierungen in Gesellschaftsfragen
Über die christlichen Kirchen als Akteure in der deutschen Politik und Öffentlichkeit hat die katholische Theologin Prof. Dr. Judith Könemann vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in der Ringvorlesung des Forschungsverbundes gesprochen. „Die öffentliche politische Meinungsbildung ist ein Prozess, der von Wettbewerb, Präsenz und Interessensvertretung der jeweiligen Akteure geprägt ist. Dazu gehören auch religiöse Akteure wie die Großkirchen.“ Durch die gewachsene religiöse Vielfalt und auch durch die Entkirchlichungsprozesse der vergangenen Jahre seien die evangelische und katholische Kirche jedoch längst nicht mehr die einzigen Vertreter, die die öffentliche Meinung mitgestalten wollten, sagte die Wissenschaftlerin. Auch die Aufgabe, Werte zu sichern, teilten sich die Kirchen inzwischen mit anderen religiösen wie nicht-religiösen Akteuren.
Die Ringvorlesung des Exzellenzclusters und des „Centrums für Religion und Moderne“ (CRM) befasst sich mit dem Thema „Religiöse Vielfalt. Eine Herausforderung für Politik, Religion und Gesellschaft“. Der Vortrag von Prof. Judith Könemann trug den Titel „Religiöse Akteure in der Öffentlichkeit. Kirchliche Positionierungen und Interessensvertretung in der (Zivil-) Gesellschaft“. Die Wissenschaftlerin stellte darin Themen ihres Cluster-Projektes C17 „Die Rolle der christlichen Kirchen in der Öffentlichkeit“ vor. Detaillierte Ergebnisse der Untersuchung werden der Öffentlichkeit zum Jahresende vorgestellt.
Empirische Befunde zu einer religionsphilosophischen Debatte
Das interdisziplinär zwischen Theologie und Sozialwissenschaften angelegte Forschungsprojekt untersucht mittels qualitativer und quantitativer Methoden, welche religiösen und nicht-religiösen Argumente Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche in öffentlichen Auseinandersetzungen wie der Abtreibungs- und Asyldebatte nutzten und welche ihrer Positionen in den Medien wahrgenommen wurden. Untersucht wurden Debatten dieser Themenbereiche zwischen 1970 und 2005. Die Studie soll laut Prof. Könemann empirische Befunde zu einer religionsphilosophischen Debatte liefern, die Wissenschaftler wie Jürgen Habermas, Richard Rorty und Robert Audi seit mehreren Jahren führen. Es gehe dabei um die Frage, ob Glaubensgemeinschaften ihre religiösen Überzeugungen ungefiltert in öffentliche Debatten demokratischer und pluraler Gesellschaften einbringen können, oder ob sie ihre Anliegen mit Blick auf die jeweilige Diskursarena anpassen und übersetzen müssen.
Erste Ergebnisse der Studie zeigen, dass im Untersuchungszeitraum viele religiöse Argumente zu verzeichnen sind, doch ebenso viele säkulare Bezüge und Argumente in öffentlichen Stellungnahmen von religiös organisierten Akteuren. „Christliche Kirchen formulieren somit weniger religiöse Argumente als vermutet", sagte Prof. Könemann „Vielmehr bedienen sie sich vor allem einer politisch-gesellschaftlichen Argumentation. Zwar könnte das der Debattenlogik geschuldet sein, die beispielsweise eine sozialpolitische Argumentation erforderlich macht, dennoch kann man dies auch als grundsätzlichen Respekt vor der Vernunftautonomie auch der kirchlichen Klientel interpretieren, die ebenfalls überzeugt werden muss.“ Vor allem zeigen die Ergebnisse der Forscherin zufolge, wie stark kombiniert und in welchen Kontexten die religiöse und nicht-religiöse Argumentation Verwendung findet.
Prof. Dr. Judith Könemann ist Professorin für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster und Mitglied im Vorstand des CRM. In der zweiten Förderphase des Exzellenzclusters seit November leitet sie das Projekt C2-5 „Freie kirchliche Schulen als organisierte Handlungsträger im Spannungsfeld von kirchlicher Eigenlogik, gesellschaftlichem Bildungsdiskurs und staatlicher Bildungspolitik“.
Ringvorlesung „Religiöse Vielfalt“
Die Ringvorlesung „Religiöse Vielfalt“ des Exzellenzclusters und des neuen CRM analysiert Beispiele religiöser Pluralität von der Antike über das Mittelalter und die Frühneuzeit bis zu Deutschland, England, China und den USA heute. Die Vorträge mit anschließender Diskussion sind dienstags ab 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Kommende Woche spricht der Religionswissenschaftler Prof. Dr. Kocku von Stuckrad von der Universität Groningen zum Thema „Plurale Wissensansprüche in der europäischen Religionsgeschichte: Astrologie, Esoterik, Wissenschaft“. (ska/vvm)