Hat die Bedeutung der Religionen zu- oder abgenommen?
Internationale Cluster-Tagung zum Verhältnis von „Religion und Politik“
Internationale Wissenschaftler gehen der Frage nach, wie sich das Verhältnis von Religion und Politik im Laufe der letzten Jahrhunderte verändert hat. Die klassische Säkularisierungstheorie, die von einer Differenzierung von Religion und Politik im Übergang zur Moderne ausgeht, werde in Soziologie und Geschichtswissenschaft immer häufiger kritisiert, sagt Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster. Der Cluster widmet der Auseinandersetzung mit der Säkularisierungstheorie vom 14. bis 16. April 2011 eine Tagung. Historiker und Soziologen werden sie anhand von Fallbeispielen aus neun Jahrhunderten überprüfen und Tendenzen der Differenzierung und Entdifferenzierung von Religion und Politik untersuchen.
„Wir stellen die Säkularisierungsthese empirisch auf den Prüfstand. Sie gehört zum Kernbestand soziologischer Theorieentwürfe, wurde zuletzt aber häufig als veraltet, eindimensional und fortschrittsgläubig abgetan“, so Prof. Pollack. „Viele Wissenschaftler stellen ihren eurozentrischen Ansatz, ihre empirischen Behauptungen und ihre theoretischen Voraussetzungen in Frage.“ Umso wichtiger sei es, Soziologie und Geschichtswissenschaft darüber ins Gespräch zu bringen und die historisch angelegte Theorie im historischen Vergleich zu überprüfen. Später biete sich auch ein interkultureller Vergleich an. Der Blick auf die Geschichte ermögliche auch, das heutige Verhältnis von Religion und Politik, das sich oft uneindeutig darstelle, besser und tiefer zu verstehen.
Öffentlicher Vortrag des Soziologen Prof. Dr. Hans Joas
Zu der Tagung werden Experten aus Europa und den USA erwartet. Soziologe Prof. Dr. Hans Joas, der in Chicago und Freiburg lehrt, spricht in einem öffentlichen Vortrag über zentrale Begriffe der Säkularisierungsthese. Der Titel lautet „Gefährliche Prozessbegriffe: Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung“. Er ist am 14. April 2011 um 20.00 Uhr im Fürstenberghaus Hörsaal F5 zu hören. Die Fachtagung des Exzellenzclusters trägt den Titel „Die Ausdifferenzierung von Religion und Politik: Soziologische Annahmen und historische Befunde“.
Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ will durch die historische Analyse seines Forschungsthemas zeigen, auf welche Art sich das Verhältnis zwischen den beiden sozialen Sphären Religion und Politik verändert hat, welches die treibenden Kräfte dafür waren, ob sich die beiden Bereiche tatsächlich zunehmend getrennt haben und ob somit die Theorie einer „funktionalen Differenzierung“ berechtigt ist. „Um soziologische Theorie und historische Detailtreue aufeinander zu beziehen, nehmen wir Probebohrungen zu ausgewählten Perioden vor“, erläuterte Prof. Pollack. Vier Analyseschritte sind geplant, in denen auf einen soziologischen Impuls jeweils drei historische Referate folgen.
Die vier Analyseschritte:
- Als erster Schub der Differenzierung von Religion und Politik gilt der Investiturstreit (1056-1122), in dem Kirche und Kaisertum um die Vormacht rangen und an dessen Ende die Trennung von weltlicher und geistlicher Macht stand.
- Ein weiterer Schub in der Differenzierung von Religion und Politik wird im Konfessionellen Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts gesehen. Ob an dessen Ende ein „neutraler Staat oberhalb der streitenden religiösen Parteien“ oder ein „konfessioneller Staat“ entstand, soll auf der Tagung diskutiert werden.
- In einem dritten Schritt untersuchen die Wissenschaftler, inwieweit die Garantie der Menschenrechte und der Religionsfreiheit, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts in den USA und durch die Revolution in Frankreich erreicht wurden, die Voraussetzung für einen säkularen und religionsneutralen Staat darstellen.
- Im letzten Schritt geht es um „das lange 19. Jahrhundert“ (1789/1803-1914), in dem das liberale Bürgertum die rechtliche Trennung von Kirche und Staat betrieb.
Veranstalter der Tagung sind die Cluster-Projekte C21 „Die Legitimität des religiösen Pluralismus“ unter Leitung von Prof. Pollack, C11 „Gewaltverzicht religiöser Traditionen unter Leitung des Sozialethikers und Religionssoziologen Karl Gabriel und Religionssoziologin Dr. habil. Christel Gärtner, Nachwuchsgruppenleiterin der Graduiertenschule des Exzellenzclusters. (vvm)
Programm
Donnerstag, 14. April, Stadthotel Münster (Aegidiistraße 21) |
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14:00 Uhr |
Einführung in das Thema |
Christel Gärtner, Münster |
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Erster Analyseschritt: Der Investiturstreit (1056-1122) |
Moderation: Karl Gabriel, Münster Kommentar: Otto Gerhard Oexle, Göttingen |
Soziologischer Impuls | Der Investiturstreit und seine Folgen – Differenzierung und Säkularisierung? |
Hartmann Tyrell, Bielefeld |
Historische Analyse | Libertas ecclesiae: Anfänge der Säkularisierung im Investiturstreit? |
Gerd Althoff, Münster |
Gregor VII. und die Könige: Auf dem Weg zur Hierokratie? |
Wilfried Hartmann, Tübingen | |
Von der Säkularisierung zur Desakralisierung: Ausdifferenzierung in Theologie, Recht und Politik im Spätmittelalter |
Sita Steckel, Münster/Cambridge, MA | |
20:00 Uhr |
Abendvorlesung Gefährliche Prozessbegriffe: Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung (Fürstenberghaus, Hörsaal F5) |
Hans Joas, Freiburg/Chicago |
Freitag, 15. April, Stadthotel Münster (Aegidiistraße 21) | ||
9:00 Uhr |
Zweiter Analyseschritt: Das Konfessionelle Zeitalter (16./17. Jahrhundert) |
Moderation: Detlef Pollack, Münster Kommentar: Barbara Stollberg-Rilinger, Münster |
Soziologischer Impuls |
The Confessional Era: A Secular Age? |
Philip S. Gorski, Yale University |
Historische Analyse | The attack on or also the era of the end of the Constantinian epoch of the Christian Church? |
Robert von Friedeburg, Rotterdam |
Strafpredigten: Recht und Religion im 18. Jahrhundert |
André Krischer, Münster |
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15:00 Uhr |
Dritter Analyseschritt:
Aufklärung, Französische Revolution, Amerikanische Revolution: Der
Ursprung der Menschenrechte und ihre Universalisierung nach 1945 |
Moderation: Karl Gabriel, Münster Kommentar: Hans Joas, Freiburg/Chicago |
Soziologischer Impuls | Religionsfreiheit – ein neuzeitliches Differenzierungsmuster und seine Entstehung |
Matthias Koenig, Göttingen/Toronto |
Historische Analyse | Differenzierung und Entdifferenzierung von Religion und Politik als Wurzeln von Menschenrechten | Wolfgang Reinhard, Erfurt |
Religiöser Ursprung der Menschenrechte – eine verfehlte Ätiologie? |
Daniel Bogner, Münster | |
Von spezifischen Christenrechten zu
allgemeinen Menschenrechten? Zur Genese, Definition und
Durchsetzbarkeit universeller Menschenrechte in der internationalen
Ordnung, 1780 – 1950 |
Christian Müller, Münster | |
Samstag, 16. April, Stadthotel Münster (Aegidiistraße 21) | ||
9:00 Uhr |
Vierter Analyseschritt: Das lange 19. Jahrhundert und die rechtliche Trennung von Kirche und Staat |
Moderation: Christel Gärtner, Münster Kommentar: Franz-Xaver Kaufmann, Bielefeld |
Soziologischer Impuls | Das 19. Jahrhundert: Zeitalter der Säkularisierung oder widersprüchlicher Entwicklungen? |
Karl Gabriel, Münster |
Historische Analyse | Säkularisierung und Sakralisierung im 19. Jahrhundert | Olaf Blaschke, Trier |
Separation of Church and State: an elusive (illusive?) Ideal | Hugh McLeod, Birmingham | |
Säkularisierung als Entkirchlichung: Trends und Konjunkturen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert | Antonius Liedhegener, Luzern |
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Abschlusskommentar |
Detlef Pollack, Münster | |
Schlussdiskussion | ||
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