„Die totale Religion“
Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Jan Assmann erläutert den Ursprung religiöser Gewalt
Religiöse Gewalt lässt sich laut Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Jan Assmann nur verhindern, wenn Religionen ihren „totalisierenden Anspruch“ aufgeben. „Monotheistische Religionen unterscheiden wie die Politik nach Freund und Feind. Dieser totalisierende Anspruch kann bis zur Verfolgung und Vernichtung von Feinden führen“, sagte der renommierte Heidelberger Ägyptologe und Religionswissenschaftler am Dienstagabend in Münster. „Erst wenn Religionen nicht mehr polarisieren und totalisieren, lässt sich solche Gewalt vermeiden.“
Judentum, Christentum und Islam können nach den Worten des Wissenschaftlers einen Zustand der „totalen Religion“ erreichen, die dem „totalen Staat“ auf geradezu unheimliche Weise ähnle. Das geschehe dann, wenn eine Religion den „Ernstfall“ des Jüngsten Gerichts in den Mittelpunkt ihres Weltbildes stelle, so wie ein totalisierender Staat sich durch den Ernstfall des Krieges definiere. „Wer an das Jüngste Gericht glaubt, zögert nicht, für seine Religion zu sterben und zu töten.“ Die Welt werde dann in Freund und Feind unterteilt, Differenzierungen gebe es nicht mehr. „Das führt zu Gewalt.“
Prof. Dr. Assmann sprach in der Ringvorlesung des Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster. Sein Vortrag trug den Titel „Zum Ursprung und Wesen religiöser Gewalt“. Die Vorlesungsreihe widmet sich im Sommersemester dem Thema „Religion und Gewalt“. Der vielfach ausgezeichnete Kulturwissenschaftler hat die internationale wissenschaftliche Diskussion über das Thema entscheidend geprägt. Prof. Dr. Assmann sprach in überfülltem Saal im Rahmen der Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster.
„Aggregatzustand“ von Religionen
Der Begriff der „totalen Religion“ bezeichnet laut Prof. Dr. Assmann keine bestimmte Religion, sondern einen „Aggregatzustand“, den verschiedene Religionen annehmen können. Im Judentum hätten ihn in früheren Jahrhunderten einzelne zelotische Gruppen proklamiert. Das Christentum habe „vor allem im Mittelalter Phasen päpstlicher Dominanz gezeigt, aber dann auch unter Oliver Cromwell eine protestantische Phase religiöser Gleichschaltung durchgemacht, und der Islamismus konfrontiert uns heute mit Erscheinungsformen der totalen Religion.“
Das Problem sei erst mit den monotheistischen Religionen aufgekommen, unterstrich der Forscher. Frühere heidnische Religionen hätten keine totalisierende Haltung gezeigt. Sie polarisierten laut Assmann nicht in Freund und Feind, Kriege führten sie aus Habgier, Rache oder Angst, aber nicht aus religiösen Gründen. „Die Idee eines Ernstfalls wie des Jüngsten Gerichts, der Apokalypse und des Martyriums war diesen Religionen fremd, und nur von der Idee eines Ernstfalls her ist das Totale im Religiösen wie im Politischen denkbar.“
In der Ringvorlesung „Religion und Gewalt. Erfahrungen aus drei Jahrtausenden Monotheismus“ sprechen Vertreter unterschiedlicher Disziplinen wie Historiker, Germanisten, Theologen und Religionswissenschaftler. Die öffentlichen Vorträge mit anschließender Diskussion finden dienstags ab 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 statt. Die Reihe ist Teil der Reihe „Dialoge zum Frieden“, für die der Exzellenzcluster in der „Allianz für Wissenschaft“ mit der Stadt Münster kooperiert. (vvm)