Startschuss für europaweite Forschungen zu umstrittenen Päpsten
Ex-EU-Kommissionspräsident Prodi und israelischer Vatikan-Botschafter Lewy eröffnen Tagung zu Pius XI. und XII. in Münster
Prominente aus Politik und Wissenschaft haben den Startschuss für ein europäisches Netzwerk zur Erforschung der umstrittenen Politik des Vatikans in der Zwischenkriegszeit gegeben. Romano Prodi, ehemaliger Präsident der EU-Kommission, und Mordechay Lewy, Botschafter Israels beim Heiligen Stuhl, betonten am Mittwochabend auf einer Tagung in Münster die Wichtigkeit internationaler Studien zu Papst Pius XI. und seinem Nachfolger Pius XII. Etwa 30 Professoren aus ganz Europa planen, gemeinsam mit Nachwuchswissenschaftlern die 100.000 Aktenbündel aus der Amtszeit von Pius XI. (1922-1939) im Vatikanischen Geheimarchiv auszuwerten. Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., übte in dieser Zeit als Nuntius in Deutschland und später als Kardinalstaatssekretär bereits entscheidenden Einfluss aus.
Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Prof. Matthias Kleiner, sagte dem geplanten Forschungsnetzwerk seine Unterstützung zu, auch bei der weiteren Gestaltung geeigneter Förderinitiativen. Der Staatssekretär im NRW-Innovations-ministerium, Michael Stückradt, und der Prorektor für strategische Planung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU), Jörg Becker, begrüßten das Projekt als einen Beitrag zur geisteswissenschaftlichen Spitzenforschung in der Region. Sie äußerten sich zum Auftakt einer Tagung an der WWU über Pius XI. und Eugenio Pacelli, die der Münsteraner Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf in Kooperation mit dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ veranstaltet. Prof. Dr. Gerd Althoff, Sprecher des Exzellenzclusters, betonte, er sehe „beste Voraussetzungen“ für eine Zusammenarbeit: „Das Papsttum ist eine Institution, die auch uns besonders interessiert.“
Botschafter Lewy stellte klar, Pius XII. sei nicht „Hitlers Papst“ gewesen. „Der geistige Boden in der Kurie war aber stark antisemitisch und nicht nur antijüdisch behaftet.“ Pius XII. habe sich auch in der Nachkriegszeit „kaum beeindruckt vom jüdischen Schicksal“ gezeigt. Der israelische Botschafter bezeichnete es als „eine absolute Notwendigkeit“, die Entscheidungsprozesse innerhalb der Kurie und bestimmte Fragestellungen zur Zwischenkriegszeit europaweit zu untersuchen.
Prodi hob hervor, das Europa der Zwischenkriegszeit könne als
abschreckendes Beispiel für die Gegenwart dienen. Damals habe die
„Einigkeit in den Zielen“ gefehlt. „Es ist sehr wichtig, die Ereignisse
und die politischen Leitlinien des damaligen Europas zu erkennen, da aus
der totalen Umkehrung ebendieser Leitlinien das andere Europa der
Nachkriegszeit erwachsen ist.“ Europa müsse „in die Ausbildung einer
Generation von Erforschern dieser Fakten und Prozesse“ investieren.
Zurzeit steht die Europäische Union nach Ansicht des langjährigen
Europapolitikers erneut an einem Scheideweg. Sie sei immer stärker von
der Vertretung nationaler Interessen, Populismus und Regionalismus
geprägt. Die Vision der europäischen Einigung brauche deswegen neue
Grundlagen: eine neue gemeinsame Wirtschafts- und Außenpolitik, die
Freiheit, wichtige Entscheidungen nicht einstimmig fällen zu müssen und
die Möglichkeit, „aus der Union auszutreten für die, die ihre Ziele
nicht anerkennen“. „Man kann nicht Mitglied der Union sein, nur um die
Funktion einer Bremse auszuüben“, betonte der Politiker.
Der katholischen Kirche kommt laut Prodi eine besondere
Verantwortung für die Zukunft Europas zu. Das universal ausgerichtete
Christentum relativiere Nationalismen. Angesichts der Ängste vor dem
Terrorismus und der globalen Migrationen könne es das Streben nach
Frieden unterstützen und Europa einen „einenden ethischen Schub
bringen“. Der Europapolitiker forderte in seiner persönlich geprägten
Rede aber dazu auf, „in der Zugehörigkeit zur eigenen religiösen Familie
zu verstehen, wo der eigene Platz als Mitglied einer pluralistischen
Gesellschaft ist“. Er erinnerte an die Gründungsväter der europäischen
Einigung, die in einem „sehr starken religiösen Fundament“ die
Grundprinzipien des Friedens und des menschlichen Miteinanders gefunden
hätten. Die Kirche habe sie dabei allerdings nicht unterstützt.
Mordechay Lewy ging in seinem Festvortrag auf die Einstellung
Pius’ XII., der von 1939 bis 1958 Papst war, zum Judentum, zum Zionismus
und zum Staat Israel ein. Es verdichte sich der Eindruck, dass sein
„Schweigen“ zur Judenverfolgung zu seiner „diplomatischen
Überlebenstaktik“ gehört habe. Pius XII. biete „kein Schwarz-Weiß-Bild,
sondern ein schmerzhaft nuanciertes Grau“. Die Gründung Israels lehnte
der Vatikan Lewy zufolge ab. „Die theologische Haltung war, dass die
Juden als Volk der Gottesmörder die Gnade Gottes verloren haben – und
damit auch ihr Anrecht auf das Heilige Land.“ Die Staatsgründung Israels
sei im Vatikan zudem als eine kommunistisch-atheistische Gefahr gesehen
worden. Weitere Forschungen zu diesen Fragen seien unbedingt notwendig.
Am Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der WWU
untersuchen die Mitarbeiter eines Langzeitvorhabens der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) bereits die Politik des Vatikans in der
Zeit zwischen den Weltkriegen. Sie bereiten rund 6.500 Berichte für die
Veröffentlichung im Internet vor, die Eugenio Pacelli, der spätere Papst
Pius XII., als päpstlicher Gesandter in Deutschland schrieb. Die
Dokumente aus dem Jahr 1917 sind seit dem 24. März unter
www.pacelli-edition.de online zugänglich. (arn)