Grenzen der Pluralisierung
Wie die Deutschen über die neue religiöse Vielfalt denken
Nahezu jeder zweite Deutsche fühlt sich laut einer Umfrage durch die wachsende Vielfalt der Religionen im Land bedroht. Die große Anzahl religiöser Gruppen sorgt für Unsicherheit unter den Menschen, wie der Münsteraner Soziologe Prof. Dr. Detlef Pollack und sein Mitarbeiter Olaf Müller in einem Gastbeitrag darlegen.
Viele befürchten demnach einen Verlust der eigenen Identität. 72 Prozent der Befragten in Westdeutschland sehen die religiöse Vielfalt als Ursache für gesellschaftliche Spannungen an; in Ostdeutschland stimmten 69 Prozent der Aussage zu. Pollack will die repräsentative Studie, die von der VolkswagenStiftung gefördert wurde, in diesem Jahr neu auflegen. Er plant eine weitere Erhebung zur Akzeptanz religiöser Vielfalt in ausgewählten europäischen Gesellschaften.
Die öffentliche Diskussion um den Charakter und die sozialen Auswirkungen der religiösen Pluralisierung verläuft kontrovers. Ob es um Gruppen innerhalb des Christentums wie Charismatiker und Evangelikale geht, um Formen außerchristlicher Religiosität wie New Age, Esoterik und Reiki oder um Religionsgemeinschaften von Migranten: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die das Neue als eine Bereicherung unserer Kultur ansehen; oft streben sie den Dialog an, zuweilen setzen sie sich sogar für die partielle Aneignung des „Fremden“ ein. Auf der anderen Seite nimmt offenbar die Zahl derjenigen zu, die in der wachsenden Vielfalt der Religionen eine Bedrohung des sozialen Friedens sehen und auf die Assimilation des „Fremden“ drängen.
Das "Fremde" als Bedrohung?
Unabhängig davon, ob man hier einer Politik des Vertrauens und des Austauschs den Vorzug gibt oder eine Haltung des Misstrauens und der Abwehr einnimmt, dürfte es nicht unwichtig sein zu wissen, wie die Bevölkerung in Deutschland mehrheitlich auf die wachsende religiöse und kulturelle Vielfalt reagiert – nicht zuletzt, um die angemessene politische Entscheidung treffen zu können. Betrachten die Menschen in Deutschland nichtchristliche Religionen als eine Ergänzung zu ihrer eigenen religiösen Orientierung, von der sie lernen und von der sie Teile vielleicht sogar übernehmen können? Oder nehmen sie das „Fremde“ eher als Bedrohung wahr, von der sie sich abgrenzen müssen? Oder als eine Herausforderung, die sie zur Stärkung ihrer eigenen kulturellen und religiösen Identität motiviert? In einem repräsentativ angelegten Forschungsprojekt, das unter dem Titel „Kirche und Religion im erweiterten Europa“ von der VolkswagenStiftung finanziell gefördert wird, sind die Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) diesen und ähnlichen Überlegungen nachgegangen. In ihrer 2006 durchgeführten repräsentativen Studie, die in Kürze in veränderter Form neu aufgelegt werden soll, kommen sie zu interessanten Ergebnissen.
Die Frage, ob man eine größere Vielfalt religiöser Organisationen und Gruppen wünscht, um aus den unterschiedlichen Angeboten besser auswählen zu können, beantworteten die Deutschen mehrheitlich negativ. In Westdeutschland waren es nur 10 Prozent, die sich eine größere religiöse Vielfalt wünschten, in Ostdeutschland mit 7 Prozent noch weniger. Das spricht auf den ersten Blick nicht dafür, dass die Mehrheit der Bevölkerung die gewachsene Pluralität der religiösen Gemeinschaften als Bereicherung ansieht.
Kaum Vermischung von Traditionen
Gefragt
danach, ob die Menschen in ihren religiösen Überzeugungen auf Lehren
unterschiedlicher religiöser Traditionen zurückgreifen, bejahten dies
26 Prozent der Befragten in Westdeutschland und 16 Prozent der
Befragten in Ostdeutschland. Von denen, die konfessionell gebunden
sind, wöchentlich den Gottesdienst besuchen und sich zum Glauben an
Gott als Person bekennen, glaubten zum Beispiel nur etwa 15 Prozent
auch an die Wirkungen von Magie, Okkultismus und Spiritualismus,
während etwa 85 Prozent von ihnen derartige Wirkungen eher
bezweifelten. Im Großen und Ganzen lässt sich also sagen, dass die
Vermischung unterschiedlicher Religionstraditionen nur bei Minderheiten
vorzufinden ist. Auch wenn in der Öffentlichkeit und in der
religionssoziologischen Fachliteratur viel vom neuen religiösen
Synkretismus die Rede ist, begegnen anscheinend nur wenige Menschen
Formen einer nichtchristlichen Religiosität mit Offenheit.