Bericht zum Abendvortrag "Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland. Konfessionen – Semantiken – Diskurse"
Mit einer öffentlichen Buchvorstellung zur Neuerscheinung des Sammelbandes 'Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland. Konfessionen – Semantiken – Diskurse' stellten die beiden Herausgeber Prof. Dr. Karl Gabriel (Römisch-Katholischer Theologe und Soziologe) und Prof. Dr. Hans-Richard Reuter (Evangelischer Theologe) am Donnerstag, den 28. Juni 2018, den zweiten Teil einer langjährigen Studie zur Verflechtung von Wohlfahrtsstaatsentwicklung und Religion vor. Der Abendvortrag wurde gemeinsam vom CRM und dem Exzellenzcluster 'Religion und Politik' veranstaltet. Die Herausgeber sind Mitglieder des Centrums für Religion und Moderne sowie Seniorprofessoren am Exzellenzcluster 'Religion und Politik'. Der einleitende Vortrag wurde kommentiert von den Emeriti Prof. Dr. Günter Brakelmann (Evangelischer Theologe und Soziologe) und Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach (Römisch-Katholischer Theologe, Ökonom und Jesuit).
Prof. Dr. Karl Gabriel und Prof. Dr. Hans-Richard Reuter zeigten in einem gemeinsamen Vortrag auf, inwiefern für Deutschland in besonderer Weise gilt, dass seine Tradition eines korporatistischen Sozialversicherungsstaats mit dualer Wohlfahrtspflege ohne Berücksichtigung des religiösen Faktors nicht begriffen werden könne. Zunächst stellten sie mit einer Integration wissenssoziologischer und begriffsgeschichtlicher Perspektiven den theoretischen Zugang zu der Studie vor. Die einzelnen Beiträge würden dann auf die religiöse Dimension der Tiefengrammatik des deutschen Wohlfahrtsstaats seit dem Kaiserreich sowohl hinsichtlich institutioneller Semantiken wie Staat, Wirtschaft, Arbeit, Armut und Familie als auch in Bezug auf Wertsemantiken wie Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität, Verantwortung und Sicherheit weisen.
Abschließend skizzierten sie ihre Ergebnisse in Form von Thesen, die sie in einem zusammenfassenden Aufsatz auf Grundlage der einzelnen Teilperspektiven verdichtet haben. Ein zentraler Befund sei, dass religiöse Semantiken und Diskurse die Entstehung und Entwicklung des deutschen Wohlfahrtsstaatsystems über die Dauer der verschiedenen politischen Regime relativ kontinuierlich geprägt haben. Zudem sei der Unterschied zwischen den christlichen Konfessionen z.B. hinsichtlich der Auffassungen von Verantwortung und Familie und ihr jeweiliges Konkurrenzverhältnis von zentraler Bedeutung für den Einfluss von Religion auf die Ausprägung des deutschen Wohlfahrtsstaatssystems.
Prof. Dr. Hengsbach hob in seinem Kommentar den großen Umfang der Studie positiv hervor und benannte darüber hinaus zum einen besonders die Herausforderung, eine begriffliche Schärfe religiöser Semantiken und Diskurse nicht aufzugeben sowie zum anderen durch die Perspektive auf Kontinuitäten nicht die Brüche aus dem Blick zu verlieren, die sich zum Beispiel infolge der beiden Weltkriege ereignet haben. Prof. Dr. Brakelmann stellte der eingenommenen Analyseperspektive des Bandes eine sozialhistorische Lesart aus protestantischer Sicht entgegen. Nur durch die Berücksichtigung von sozialen Prozessen und den gesellschaftlichen Akteuren, die als Transmissionsriemen christlicher Ethik in Politik fungierten, sei die Genese des deutschen Wohlfahrtsstaats umfänglich zu verstehen.
In der abschließenden Diskussion mit dem Publikum wurden daran anknüpfende Fragen gestellt, unter anderem wie religiöse von nicht religiöser Semantik begrifflich unterschieden werden könne, oder welche Bedeutung das diskursive Ringen im konfessionellen Binnenverhältnis - zum Beispiel um die Stellung von Frauen und Familie - bei der Entwicklung von christlichen Semantiken und Diskursen eingenommen habe. Insgesamt, so der geteilte Eindruck aller Diskutanten, erziele der Band einen hohen Erkenntnisgewinn zum Verständnis der besonderen Ausprägung des deutschen Wohlfahrtsstaatssystems durch eine institutionell enge Kirche-Staat-Beziehung im Allgemeinen als auch im Besonderen zu der Rolle christlicher Semantiken und Diskurse für die Umsetzung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen.