Säkularisierungstendenzen in den USA?
Lange Zeit galt als ausgemacht, dass die USA der Gegenbeweis zur Säkularisierungstheorie sei. Während in Europa die Anhebung des ökonomischen Wohlstands sowie die Demokratisierung und Pluralisierung der Gesellschaft zum Bedeutungsrückgang von Religion und Kirche führten, würden in den USA ein hohes Modernisierungsniveau und vitale Religiosität Hand in Hand gehen. Neuere Studien zeigen indes: Auch in den USA lassen sich die Tendenzen zur Säkularisierung nicht mehr abstreiten. In den letzten Jahrzehnten ist der Anteil derer, die von sich sagen, sie würden keiner Religion angehören, von 3 % auf 20 % gestiegen. Dabei wird der Prozentsatz der nicht konfessionell Gebundenen weiter wachsen, denn die Zugehörigkeit zu einer Kongregation weist die typische Altersverteilung auf: Von den über 50jährigen sagen mehr als vier Fünftel, dass sie einer Kirche angehören, von den 18-29jährigen hingegen nur drei Fünftel. Auch der Gottesdienstbesuch weist in den USA eine rückläufige Entwicklung auf und ebenso, wenn auch nur schwach, der Glaube an Gott.
Dennoch liegt das Religiositätsniveau bei den meisten Indikatoren in den USA über dem europäischen Durchschnitt. Die höhere Religiosität der Amerikaner im Vergleich zu den Europäern ist mit den Annahmen der Säkularisierungstheorie jedoch gut vereinbar. Sie erklärt sich unter anderem aus dem für moderne Gesellschaften ungewöhnlich hohen Grad an existentieller Unsicherheit und sozialer Ungleichheit in den USA und aus der millionenfachen Zuwanderung gläubiger Menschen aus hochkatholischen Ländern insbesondere Lateinamerikas. Die katholische Kirche blieb daher in den letzten Jahrzehnten in etwa gleich stark. Die protestantischen Kirchen, die die Mehrheit der Bevölkerung umfassen, mussten hingegen deutliche Verluste hinnehmen. Dabei waren es vor allem die so genannten mainline churches (Presbyterianer, Kongregationalisten, Episkopale), die an Mitgliedern verloren, während die evangelikalen Kongregationen seit den siebziger Jahren zwar nicht gewachsen sind, aber ihren Mitgliederbestand halten konnten. Dass sie vergleichsweise stark blieben, hat vor allem mit ihrer Abgrenzung von den liberalen Werten der sechziger Jahre und ihrer Bejahung von konservativen Positionen zu tun, etwa hinsichtlich des Feminismus, des Schwangerschaftsabbruchs, der Homosexualität oder auch des amerikanischen Kriegseinsatzes im Ausland. Die polemische Distanzierung von liberalen Werten mit ihrer Tendenz zur Eskalation von Konflikten trägt zur Stärkung des evangelikalen Lagers bei.
Gerade aufgrund der zunehmenden Verschmelzung von evangelikalen und konservativen Positionen gehen liberal eingestellte Amerikaner zu Religion und Kirche aber zunehmend auch auf Distanz. Wenn man bedenkt, dass die Anerkennung freiheitlicher, individualistischer und hedonistischer Werte in den USA insgesamt an Bedeutung gewinnt, dann ist klar, dass die Bindungsfähigkeit des konservativ-evangelikalen Lagers abnehmen wird. Erstmals in den neunziger Jahren ging die Mitgliederzahl der Southern Baptist Convention zurück. Schon jetzt begegnen die Amerikaner den unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen mit einem hohen Maß an Toleranz. Dass das Christentum die einzig wahre Religion sei, glaubt nur noch eine verschwindende Minderheit. Vor einigen Jahrzehnten war es noch die Mehrheit. Fast zwei Drittel meinen, jede Religion habe einen wahren Kern. Fast niemand hätte etwas gegen einen jüdischen oder katholischen Präsidenten. Etwa die Hälfte würde sogar einen atheistischen Präsidenten wählen. Für eine qualifizierte Minderheit von konservativen Christen sind religiöse und politische Haltungen eng miteinander verquickt. Doch gerade aufgrund der öffentlichen Sichtbarkeit und Lautstärke dieser beachtlichen Minderheit wendet sich eine kulturell, sozial und politisch anders eingestellte Mehrheit zunehmend von religiösen Bindungen ab. Ob die USA also, wie vielfach angenommen, als Ausnahme von der Regel eines engen Zusammenhangs von Modernisierung und Säkularisierung gelten können, ist zumindest fraglich geworden.