BIOCIVIS - Partizipation zur Sicherung des Nachhaltigkeitsnutzens und der gesellschaftlichen Teilhabe (in) der Bioökonomie

  • Hintergrund, Forschungsfrage und Forschungsdesign

    Biotechnologische Prozesse wie die Reinigung von Abwasser, die Produktion von Biogas und die Erzeugung bio-basierter Chemikalien sind heute bereits wichtiger Bestandteil einer bioökonomischen Wirtschaftsweise. Im Sinne einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes und der Nutzung von Biomasse anstelle fossiler Rohstoffe haben derartige Prozesse das Potential zur Verbesserung der Nachhaltigkeit vieler weiterer Verfahren beizutragen. Die Anwendung von Biotechnologie wird in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch oft kritisch gesehen. Diese Haltung beruht im Falle einiger Verfahren insbesondere auf dem erforderlichen Einsatz von Gentechnik. Während Wissenschaft und Unternehmen Kritik oft auf mangelndes Verständnis seitens der Bürger*innen zurückführen, sind ihre Ursachen tatsächlich vielfältiger und umfassen unter anderem auch mangelndes Vertrauen in die handelnden Akteure. Gleichzeitig gilt aktuell die Beteiligung von Bürger*innen an wegweisenden Entscheidungen (beispielsweise der Energiewende) als erwünscht. Hier zeigt sich: Beteiligungsprozesse müssen gerade im Kontext technisch und wirtschaftlich komplexer Themen sorgfältig gestaltet werden. Sie sollten BürgerInnen und andere gesellschaftliche Stakeholder, Politik und Unternehmen als gleichberechtigte Akteure in einen Dialog bringen, in dem unterschiedliche Wissensformen und Werte legitim sind und so die Entwicklung tragfähiger Ergebnisse gelingen kann.

    Vor diesem Hintergrund fragt das Projekt „BIOCIVIS – Partizipation zur Sicherung des Nachhaltigkeitsnutzens und der gesellschaftlichen Teilhabe (in) der Bioökonomie“: Mittels welcher partizipativer Verfahren kann der Nutzen bioökonomischer Technologien gesellschaftlich gesichert und gleichzeitig eine Stärkung demokratischer Teilhabe realisiert werden? Um diese Frage zu beantworten werden im Verlauf des Projektes im Rahmen inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit partizipative Formate zur Sicherung des Nachhaltigkeitsnutzens und der gesellschaftlichen Teilhabe von/an Verfahren der mikrobiellen Biotechnologie entwickelt und überprüft. Dazu werden eine enge Zusammenarbeit zwischen Politikwissenschaftler*innen und Biolog*innen der WWU Münster sowie die Integration von Unternehmen der mikrobiellen Biotechnologie, von zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie Bürger*innen in mehrstufigen Beteiligungsverfahren verfolgt.

    Das Forschungsprojekt BIOCIVIS (Förderkennzeichen 031B0780) startete am 01.11.2019 unter der Leitung von Prof’in Doris Fuchs (Institut für Politikwissenschaft, WWU Münster) und Prof. Bodo Philipp (Institut für Molekulare Mikrobiologie und Biotechnologie, WWU Münster) als Mitglieder des Zentrums für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (ZIN). Es wird während der dreieinhalbjährigen Projektlaufzeit (November 2019 – April 2023) im Rahmen des Konzepts „Bioökonomie als gesellschaftlicher Wandel“ durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

  • Forschungsergebnisse

    Zusammenfassung

    Die Bioökonomie ist eine Wirtschaftsweise, bei der unter anderem eine Kreislaufwirtschaft ermöglicht und erdölbasierte Produkte und Verfahren durch nachwachsende Rohstoffe abgelöst werden sollen. Es wird aktuell kontrovers diskutiert, ob Bioökonomie zu mehr Nachhaltigkeit beitragen kann - und wenn ja, auf welche Weise. Vor diesem Hintergrund hat das interdisziplinäre Forschungsprojekt ,,BIOCIVIS – Partizipation zur Sicherung des Nachhaltigkeitsnutzens und der gesellschaftlichen Teilhabe (in) der Bioökonomie‘‘ untersucht, wie Bürger*innenbeteiligung gestaltet werden kann, damit der Nutzen von nachhaltiger Bioökonomie gesichert und gleichzeitig demokratische Teilhabe gestärkt werden. Zu diesem Zweck wurden drei aufeinanderfolgende Partizipationsveranstaltungen, die sogenannten Biodialoge, organisiert, durchgeführt und ausgewertet. Die teilnehmenden Bürger*innen sollten mit Interessensvertreter*innen aus Theorie und Praxis in einen gemeinsamen Diskurs treten, um über Chancen, Herausforderungen und Risiken der Bioökonomie und damit verbundener Innovationen zu sprechen. Zum Abschluss des Forschungsprojekts wurden schließlich aus den gesammelten Erkenntnissen Handlungsempfehlungen für die Durchführung von Beteiligungsprozessen in der Bioökonomie, gerichtet an Politik und Praxis, entwickelt.

    Um Erkenntnisse zu gewinnen und daraus schließlich die Handlungsempfehlungen ableiten zu können, wertete das Projektteam das gesammelte Material der Biodialoge aus. Dies umfasst neben den Beobachtungen und Ergebnisplakaten der Veranstaltungen beispielsweise auch Fragebögen, die die teilnehmenden Bürger*innen und Interessensvertreter*innen jeweils vor und nach den Biodialogen ausfüllten. Mithilfe eines eigens entwickelten Kriterienkatalogs wurde untersucht, inwiefern die Biodialoge die Kriterien für gute demokratische Beteiligung erfüllten – und wo noch Verbesserungsbedarf besteht.

    Um die Aussagekraft von Beteiligungsformaten zu erhöhen, sollten diese immer möglichst repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sein. Das heißt, die Gruppe der teilnehmenden Bürger*innen sollte in Bezug auf Merkmale wie z.B. Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Arbeitsbereich, Migrationshintergrund, Wahlverhalten, Einkommen, Familienstand und Religionszugehörigkeit in etwa der realen Zusammensetzung der Bevölkerung entsprechen. So können die teilnehmenden Bürger*innen in kleinem Maßstab einen Querschnitt der Gesellschaft abbilden und die Ergebnisse der Beteiligung lassen sich besser übertragen. Um dieses Ziel zu erreichen, erfolgte die Gewinnung und Auswahl von Teilnehmer*innen (sog. Rekrutierung) bei den Biodialogen nach unterschiedlichen Strategien, z.B. über freiwillige Bewerbungen von interessierten Personen oder per Zufallsauswahl über städtische Melderegister.

    Für den ersten und zweiten Biodialog wurden Bürger*innen über eine Marketingkampagne (z.B. Anzeigen in lokalen Zeitungen, Plakat- und Radiowerbung, Social Media etc.) in Münster, dem Münsterland, Hamm und Recklinghausen auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht. Das Projektteam setzte auch auf die Mithilfe von Vereinen, Wissenschaft, Zivilgesellschaft oder dem kommunalen Umfeld, um für die Biodialoge zu werben. Interessiere Bürger*innen konnten sich dann für die Teilnahme bewerben. Trotz dieses aufwandsintensiven Prozesses und vielfältigen Teilnahmeanreizen (u.a einer Aufwandsentschädigung, Erstattung von Fahrt- und Übernachtungskosten sowie Verpflegung und Kinderbetreuung) bewarben sich weniger Bürger*innen als erhofft. Hinzu kommt, dass aus den Bewerbungen zum ersten und zweiten Biodialog keine vielfältige Gruppe an Teilnehmenden ausgewählt werden konnte. Insbesondere das Bildungsniveau und die Altersverteilung unterschieden sich wenig und bildeten keinen Querschnitt der Bevölkerung ab. So zeichneten sich die teilnehmenden Bürger*innen durch ein niedriges Alter unter 35 Jahren und einen hohen, zumeist akademischen, Bildungsgrad aus.

    Deshalb erfolgte die Anwerbung von Bürger*innen für den dritten Biodialogüber einen externen Anbieter unter Rückgriff auf die Melderegister der drei Städte Münster, Hamm und Recklinghausen. Nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger*innen erhielten eine persönliche Einladung und konnten sich bei Interesse über ein Onlineformular (unter Angabe der oben erwähnten Merkmale) für die Veranstaltung anmelden. Die Umsetzung dieses Rekrutierungsansatzes war sehr kostspielig. Im Hinblick auf die Diversität der Teilnehmer*innen gab es leichte Verbesserungen, z.B. was Alter und Bildungsstand betraf. Die Erwartungen des Projektteams wurden dennoch nicht vollständig erfüllt, besonders wenn die hohen Kosten ins Verhältnis zum Ergebnis gesetzt werden. Der erste Biodialog im Mai 2021 wurde aufgrund der Corona-Pandemie online durchgeführt. Der zweite Bürger*innendialog konnte im August 2021 in Präsenz im Botanischen Garten der Universität Münster stattfinden, der dritte im Mai 2022 im Kapuzinerkloster Münster.

    Der Grundriss der Veranstaltungen war in allen drei Fällen ähnlich: Zwischen vielen, inhaltlich relevanten Informationen, hatten die Teilnehmenden Zeit, gemeinsam nachzudenken und zu diskutieren. Im Zentrum standen dabei drei praktische Alltagsbeispiele, die die Themen Bioökonomie und -technologie für die Bürger*innen greifbarer machen sollten: Abwasserreinigung mithilfe von Mikroorganismen, die Erzeugung von Biogas aus Biomüll sowie die Herstellung biobasierter Chemikalien, wie Bioplastik, Insulin und dem Aromastoff Vanillin.

    Bei den Biodialogen kam eine Kombination verschiedener Methoden zur Wissensvermittlung zum Einsatz: Neben Input-Vorträgen von verschiedenen Interessensvertreter*innen aus Theorie und Praxis mit anschließenden Fragerunden und Gesprächen, trugen Experimente, Geschichten mit Alltagsbezügen oder Zukunftsszenarien, spielerische Elemente, informative Videos und eine Ausstellung mit bioökonomischen Alltagsprodukten dazu bei, das Thema möglichst umfassend und gleichzeitig niedrigschwellig zu behandeln. In den sich anschließenden Diskussionen fanden Abwägungen zwischen den Chancen und Herausforderungen von Bioökonomie und Biotechnologie sowie verwandter Themen, wie Gentechnik, statt. Außerdem entwickelten die Bürger*innen beim dritten Biodialog folgende, individuelle Bedingungen, wie eine nachhaltige Bioökonomie gestaltet werden sollte:

    • Die Schaffung politischer Rahmenbedingungen durch die Politik ist zentrale Voraussetzung zur Realisierung einer nachhaltigen Bioökonomie, da maßgeblich für alle weiteren Vorgehensweisen und Anstrengungen.
    • Intensive und wissensbasierte Aufklärung bzw. Bildung zu den Themen Nachhaltigkeit und Bioökonomie, trägt auch dazu bei, die Handlungsmotivation der Bevölkerung zu steigern.
    • Das individuelle und gesamtgesellschaftliche Konsumverhalten muss sich ändern und den Fokus u.a. auf Verzicht, Suffizienz, Eigeninitiative und Regionalität legen, um dem übermäßigen Konsum v.a. von fossilen Ressourcen entgegenzuwirken und zu einer nachhaltigeren Lebensweise zu gelangen.
    • Es muss ein wertebasiertes, moralisches Leitbild für Politik- und Unternehmensentscheidungen entwickelt werden. Für die teilnehmenden Bürger*innen waren hier die Bewahrung der Umwelt, ethische Aspekte, Gesundheit sowie globale und soziale Gerechtigkeit zentral.

    Die gesammelten Erkenntnisse des Forschungsprojekts wurden unter anderem in Form von Handlungsempfehlungen für Politik und Praxis verwertet. In diesen wurde dargestellt, wie gute Beteiligungsformate zu komplexen, naturwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsthemen, wie der Bioökonomie, gestaltet werden sollten:

    • Transparenz: Der Ablauf und die Zielsetzungen der Veranstaltung sollten klar und transparent kommuniziert werden.
    • Repräsentativität: Die Diversität der Gruppe im Sinne festgelegter Merkmale (v.a. Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Migrationshintergrund, Familienstand, Wahlverhalten) sollte ein Hauptziel des Rekrutierungsprozesses sein. Organisation und Übernahme der Kosten für Verpflegung, Unterbringung, Kinderbetreuung, Anreise sowie die Auszahlung einer Aufwandsentschädigung (Teilnahmeanreize) können hierbei unterstützen.
    • Dialogorientierung und Kooperation: Es bedarf eines respektvollen Umgangs zwischen den Teilnehmenden, sodass Hemmungen zur aktiven Teilnahme abgebaut werden. Dafür sollten Gesprächsregeln etabliert, die Duldung von abweichenden Meinungen sowie die gleichmäßige Verteilung der Redeanteile gesichert werden.
    • Unterstützende Rahmenbedingungen: Ein barrierefreier Veranstaltungsort, eine angenehme Gruppengröße, die Verwendung von vielfältigen, geeigneten Methoden sowie eine gute technische Ausstattung und Vorbereitung sind essentiell, um einen intensiven Austausch der Beteiligten zu ermöglichen. Darüber hinaus bedarf es eines guten und gleichzeitig flexiblen Zeitmanagements, um auf Interessen und spontane Anregungen der Bürger*innen eingehen zu können.
    • Umfangreiche und gleichzeitig niedrigschwellige Wissensvermittlung: Dabei helfen u.a. die Verwendung unterschiedlicher Materialien und Methoden (z.B. eine Mischung aus Vorträgen, Videos, verschiedener Diskussionsformen/Gesprächsgruppengrößen, Rollenspielen, Zukunftsszenarien etc.).
    • Integration der Ergebnisse des Dialogs in die Politik: Das Wissen, mit der Teilnahme einen sinnvollen Beitrag zu leisten und dass die Ergebnisse einen konkreten Nutzen haben, steigert die Motivation zur Bewerbung und aktiven Beteiligung.

    Insgesamt zeigt das Forschungsprojekt BIOCIVIS, dass Bürger*innen sich durchaus auch in komplexen und technischen Themen beteiligen und Diskussionen führen können. Als eine Grundvoraussetzung dafür müssen die Organisator*innen eines Beteiligungsformats für eine gemeinsame Wissensbasis zum Thema sorgen. Dazu und zur weiteren Planung von Bürger*innenbeteiligungsformaten bedarf es einer sorgfältigen, aufwändigen Vorbereitung. Nichtsdestoweniger ist es unbedingt notwendig, alle Teile der Gesellschaft in die Gestaltung der Bioökonomie einzubeziehen. Nur wenn zukunftsweisende Entscheidungen, wie etwa für oder gegen die Bioökonomie als alternatives Wirtschaftskonzept, von allen getroffen und später getragen werden, kann die Nachhaltigkeitstransformation auch wirklich gelingen.