LOUIS ARAGONFranzösischer SchriftstellerÉcrivain français (1897-1982) |
Les Voyageurs de l'impériale Roman |
Les Voyageurs de l'impériale
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Les Voyageurs de l'impériale(1942/1947/1965)Entstehung des Romans Der Roman Les Voyageurs de l'impériale ist der dritte des Zyklus Le Monde réel. Aragon schrieb ihn im wesentlichen von Oktober 1938 bis August 1939, die letzten hundert oder mehr Seiten in der chilenischen Botschaft in Paris, in der er mit Elsa Triolet angesichts der Drohungen von Fanatikern Zuflucht gesucht hatte. Das Ende des Romans trägt das Datum "Paris, 31 août 1939". Am 1. September 1939 schickt Aragon eines der vier maschinenschriftlichen Exemplare des Werkes in die Vereinigten Staaten.Die Publikationsgeschichte des Romans ist komplex. Die Kapitel I - XXVII des ersten Teils erscheinen unter dem Titel Pierre Mercadier ou Les Voyageurs de l'impériale von Januar bis Juni 1940 als Vorabdruck in der Nouvelle Revue Française. Bereits am 14.03.1940 schickt der Verleger Gaston Gallimard den gesamten Text des Romans in den Druck mit der Anordnung, daß das Buch bis zum 30.06.1940 erscheinen soll. Ein maschinenschriftliches Exemplar und die Druckfahnen verbrennen jedoch in einem Lastwagen der Éditions Gallimard. Ein neuer Druck wird in den ersten Monaten des Jahres 1941 fertiggestellt. Als Buch kommt der Roman aber Ende 1941 zunächst in den Vereinigten Staaten in der englischen Übersetzung von Hannah Josephson heraus (The Century Was Young. New York: Duell, Sloan and Pearce, 1941). Die Veröffentlichung der französischen Buchausgabe verzögert sich, da zwar das deutsche Visum bereits am 10.07.1941 erteilt war, die Zensur von Vichy sich aber lange einer Veröffentlichung widersetzte. Die zuständige Kontrollkommision erteilt die Druckgenehmigung erst am 18.09.1942. Die französische Buchausgabe erscheint dann Ende 1942 (achevé d'imprimer le 18.12.1942) mit der Autorisation no 12.815. Sie enthält bedeutende, auch sinnentstellende Veränderungen gegenüber dem Originaltext. Seinen Originaltext läßt Aragon 1947 als "édition définitive" veröffentlichen. Als er jedoch die Ausgabe der OEuvres romanesques croisées d'Elsa Triolet et Aragon vorbereitet, unterzieht er seinen Text einer erheblichen sprachlichen Überarbeitung, die 1965 erscheinen wird. Gleichzeitig versieht er seinen Roman mit einem umfangreichen Vorwort ("Et, comme de toute mort renaît la vie..."): Hier enthüllt er, daß das Vorbild für die Hauptgestalt, Pierre Mercadier, sein eigener Großvater mütterlicherseits war, und zeigt, wie er die historisch-(auto)biographischen Fakten nach dem Prinzip des "mentir-vrai" umgeformt hat. In dieser endgültigen und nunmehr verbindlichen Fassung wird der Roman 1972 von der Taschenbuchreihe Collection Folio/Gallimard übernommen und erscheint, herausgegeben von Daniel Bougnoux, im Jahr 2000 in der Bibliothèque de la Pléiade. Die Publikationsgeschichte in den Kriegsjahren kann man anhand des von Bernard Leuilliot herausgegebenen Briefwechsels Aragon - Elsa Triolet - Jean Paulhan verfolgen. Wie es dazu kam, daß Aragons Originaltext 1942 in einer veränderten Fassung erschien, hat Michel Apel-Muller ermittelt. Siehe auch die wichtige "Note sur le texte" von Daniel Bougnoux in seiner Ausgabe des Romans in der Bibliothèque de la Pléiade.
Gliederung des Romans In der Fassung von 1947 gliedert sich der Roman wie folgt:
In der Fassung von 1965 bekommen die Teile Überschriften; das Werk gliedert sich jetzt folgendermaßen:
Charakterisierung des Romans Der Roman spielt in den Jahren der Belle Époque und des Fin de siècle; er orientiert sich an Ereignissen wie der Pariser Weltausstellung von 1889, dem Panamaskandal (1889), der Dreyfus-Affäre (in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts1), dem französisch-britischen Konflikt um den Besitz der sudanesischen Stadt Fachoda (heute Kodok; 1898), dem deutsch-französischen Zwischenfall von Agadir (September 1911), dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1914). Der erste Teil des Werkes spielt überwiegend in wenigen Monaten des Jahres 1897, der Zwischenteil 1898, der zweite Teil von 1910 bis 1914.Im Mittelpunkt des Romans steht Pierre Mercadier, Gymnasiallehrer für die Fächer Geschichte und Geographie. Er wurde 1856 geboren, ist seit 1883 verheiratet mit Paulette d'Ambérieux (*18662), einer aus kleinem Adel stammenden ziemlich dummen Frau, deren Vater Polizeipräfekt war (wie kurzfristig auch Aragons Vater) und deren Bruder Blaise ein naturalistischer Maler ist, der 1875 mit seiner Familie gebrochen hat ("parce qu'ils étaient des sots"). Pierre und Paulette haben drei Kinder, von denen zwei überleben: einen Sohn, Pascal (*1885 oder 1886), und eine Tochter, Jeanne. Pierre ist dank verschiedener Erbschaften relativ begütert; ihn interessiert, ja fasziniert das Phänomen des Geldes als solches ("La vérité d'argent"). Er schreibt ein Buch über den schottischen Finanzmann John Law (1671-1729), den Erfinder des Papiergeldes. Das "moderne" Risiko und Abenteuer suchend, sich ins Spiel um des Spieles willen verliebend, gibt sich Pierre Börsenspekulationen hin und verliert, vor allem im Rahmen des Panamaskandals, einen Teil seines Vermögens, ohne daß er deswegen seinen Lebensstil einzuschränken braucht. Aktuelle Politik interessiert ihn nicht. Beruflich und in seiner Einstellung zum Leben fühlt er sich als Außenseiter. Er empfindet stark die Nutzlosigkeit seiner Existenz, des Lebens schlechthin. Jahrelang unterrichtet er an Provinzgymnasien (Dax, Alençon, Lothringen...). Zunehmend entfremdet er sich von seiner Frau Paulette, deren charakterliche Schwächen ihm auf die Nerven gehen. Die Familie erscheint ihm immer mehr als Gefängnis. Eine im Sommer 1897 erlebte kurze Affäre mit Blanche Pailleron, einer Industriellengattin aus Lyon, endet in tiefer Enttäuschung, die in Zynismus umschlägt. Seine Kollegen, seine Schüler ("ces messieurs les enfants de salauds"), seine Lehrerpflichten widern ihn an. So verkauft er seine restlichen Wertpapiere (350000 F), verläßt im November 1897 Familie und Beruf - wie es Aragons eigener Großvater mütterlicherseits, Fernand de Biglione, getan hatte - und verschwindet. Er geht zunächst nach Italien, nach Venedig, wo er in ein gefährliches Abenteuer mit einem jungen Paar von Erpressern verstrickt wird, nach Padua, Vicenza, Verona, wo er zu der Erkenntnis kommt, daß das moralische Gesetz der Welt das Spiel ist. Über Mailand begibt er sich kurz vor Ostern 1898 nach Monte-Carlo, wo er sich in eine geschiedene Frau, Reine Bercy, verliebt; als er nach zwei Monaten erfährt, daß sie die Geliebte des deutschen Diplomaten Heinrich von Goetz ist und daß sie auch von dessen Sohn Karl geliebt wird, bricht Pierre in maßloser Eifersucht Hals über Kopf nach Brindisi auf und schifft sich dort nach Ägypten ein (später wird Reine, inzwischen mit Heinrich von Goetz verheiratet, für einige Zeit Pascals Geliebte; zerrissen zwischen Deutschland und Frankreich, begeht sie 1914 angesichts des drohenden Krieges Selbstmord). 1900 schickt Pierre aus Ägypten einen kurzen Brief an seinen Freund und ehemaligen Kollegen, den Mathematiklehrer Georges Meyer. Dieser und seine Frau Sarah nähren die Legende eines geheimnisvollen großen Mannes, dessen Genie angeblich gerade in seiner Flucht, seiner Abwendung von der Literatur, seinem Schweigen besteht. Aragon parodiert hier eine gewisse Rimbaud-Rezeption. 1908 kehrt Pierre nach Frankreich zurück, nach Paris, ohne mit seiner Familie, die sich nach seiner Flucht in Paris niedergelassen hatte, wieder Kontakt aufzunehmen. Georges Meyer begegnet ihm zufällig im Jahr 1910 und nimmt ihn bei sich auf. Er bekommt einen Posten an einer von Meyer und anderen gegründeten Privatschule. Der Schriftsteller André Bellemine, der Pierre Mercadier bereits eine kleine, seinen Helden idealisierende Novelle gewidmet hatte ("Mirador"), interviewt den Zurückgekehrten. Im Gespräch Bellamines mit dem Vorbild seiner Romangestalt parodiert Aragon seine eigene Fiktionalisierung seines Großvaters in Les Voyageurs de l'impériale. Anfang 1911 erleidet Pierre einen kleinen Schlaganfall, der ihn die Nähe des Todes spüren und einen gewissen menschlichen Kontakt als Absicherung gegen die Schwächen des Alters suchen läßt. Die finanzielle Lage der Meyers verschlechtert sich; das Leben bei ihnen wird für Pierre zunehmend unangenehmer. Sarah Meyer drängt ihn vergeblich, wieder Kontakt mit seiner Familie aufzunehmen. Ohne Wissen der Familie Meyer verbringt Pierre jeden Nachmittag (außer den Donnerstagnachmittag) in einem Café-Bordell, "Les Hirondelles", in dem er mit der "patronne", Dora Tavernier, lange Gespräche führt und das für ihn eine Art Zuhause wird. Sie selbst beginnt "M. Pierre" zu lieben und von einem gemeinsamen Leben mit ihm draußen in Garches. wo sie ein kleines Haus besitzt, zu träumen ("Une vie de retraités qui lisent les journaux côte à côte."). Als Pierre ihre Träumereien erahnt, geht er in seinen Gesprächen zum Spaß scheinbar - mit Insinuationen, mit Doppeldeutigkeiten - auf ihre geheimen Wünsche ein, was ihre Liebe noch mehr entfacht ("Dora recevait la révélation de l'amour humain à l'heure où il lui était interdit."). Gleichzeitig erleben beide "ce drame de la vieillesse": Pierre ist 56 Jahre alt und Dora ein wenig älter. Schließlich nimmt Pierre heimlich mit seinem fünfjährigen Enkel Jeannot, dem Sohn Pascals, Kontakt auf, aus dessen kindlicher Perspektive er einige Nachrichten über seine Familie erhält, die inzwischen von den Einnahmen aus einer von Pascal übernommenen Familienpension lebt (so wie Aragons Mutter Marguerite, deren Mutter und er selbst einige Jahre lang von einer solchen Familienpension gelebt hatten). So erfährt die Familie 1913 von der Rückkehr Pierres. Bei einem Besuch in Garches, zu dem Dora Pierre überreden kann, erleidet er einen Schlaganfall. Doras großes Liebesglück erfüllt sich darin, daß sie den Gelähmten bis zu seinem elendiglichen Tode im Sommer 1914 ganz für sich haben, ihn pflegen und "besitzen" kann. Der Roman erzählt in zahlreichen Kapiteln auch die Geschichte Pascals, des Sohnes Pierres: seine erste Schulzeit und seine glücklichen Ferienerlebnisse im Gebirge bei seinem Großonkel mütterlicherseits, Pascal de Sainteville, dann die harten Jahre, als er sich ohne Vater, aber mit zunehmender Verantwortung für seine Mutter und seine Schwester durchs Leben schlagen muß, seine Wiederbegegnung mit der Kindheitsfreundin Yvonne, die er heiratet und die es ihm ermöglicht, die erwähnte Familienpension zu kaufen. In Pierre Mercadier, dem Typ des einsamen und die Isolierung suchenden Menschen, schildert Aragon den "letzten Individualisten", d.h. den Egozentriker, den Egoisten, der keinen Anteil am öffentlichen Geschehen nimmt ("Pas de politique!") und weder eine öffentliche noch eine private Verantwortung zu tragen bereit ist ("il traverse le monde sans s'y mêler"). So ist Pierre Mercadier das Gegenstück zum realen Aragon, was jedoch nicht ausschließt, daß sich auch gewisse Züge des Autors in der Romangestalt finden lassen. Manche Äußerungen Pierres über sein geplantes Buch über John Law lassen sich auch auf den Roman Les Voyageurs de l'impériale beziehen. Les Voyageurs de l'impériale ist ein Roman über Verantwortung und Verantwortungslosigkeit, über den Drang zur Einsamkeit, zur Bindungslosigkeit, zum "Parasitentum", ein Roman über Sex, Liebe, Enttäuschung und Spiel, über Kindheit und Jugend, über "midlife crisis" und die Tragödie des Alterns, auch ein Roman über Sterben und Tod. Interessant ist die romanhafte Verarbeitung zahlreicher autobiographischer Elemente: der Geschichte von Aragons Großvater (der zu Pierre Mercadier wird) und eigener Kindheitserlebnisse (die den Gestalten Pascal und Jeannot zugesprochen werden, aber Pascal übernimmt allmählich auch wesentliche Elemente der Biographie von Aragons Mutter). Stark autobiographisch geprägt ist die Beschreibung des Milieus der Familienpension Étoile-Famille. Eindrucksvoll sind Naturschilderungen wie die sehr ausführliche und eindringliche Evokation der Bergwelt. Ergreifend ist die Schilderung der opferbereiten Liebe der jungen Yvonne zu Pascal, aber auch die Darstellung der phantasmagorischen Liebe der alten Bordellwirtin Dora zu Pierre. Les Voyageurs de l'impériale (in dem man übrigens mancherlei Anklänge an La Défense de l'infini findet) ist aufgrund seiner pessimistischen Weltsicht vermutlich Aragons "schwärzester" Roman. Der Autor bietet keine Lösung der menschlichen Tragödie an. Er geißelt nicht die "bürgerliche Dekadenz" (wie man es manchmal lesen kann), sondern gewisse gefährliche Neigungen der menschlichen Natur. Anders als die ersten beiden Bände des Zyklus Le Monde réel, die durch eine schnelle Erzählgangart gekennzeichnet sind, gibt sich der Autor in Les Voyageurs de l'impériale einer breiten, die Einzelheiten ausführlich schildernden Erzählweise hin. Trotz vielfacher Verwendung des aus der Perspektive der jeweiligen Gestalt formulierten "discours indirect libre" behält der auktoriale Erzähler die Zügel in der Hand und schildert und beurteilt die Gestalten letzten Endes aus seiner Sicht. Deutlich wird auch, daß Aragon nicht nach einem im voraus detailliert festgelegten Plan schreibt, sondern daß er im Laufe der Erzählung Episoden erfindet, die den Roman erweitern, seinen Gestalten neue Aspekte geben, neue Schwerpunkte setzen, sich geradezu verselbständigen, ja den Eindruck erwecken können, man befinde sich in einem anderen Roman. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist das Eingeständnis des Erzählers zu Beginn des zweiten Hauptteils, er wisse eigentlich nicht, wer der Held dieses Romans sei: Mercadier oder Meyer. Der Autor setzt sich explizit über geltende Romanregeln hinweg ("Peut-être est-il contraire aux règles du roman et déloyal par rapport au lecteur, de donner ici sur cette personne austère un détail anticipé de quelqus années, mais tant pis."). Die Gestalt Mercadiers erscheint als schillernd: Positive wie negative Züge sind in ihr vereint. Auch die Einstellung des Romanciers ihr gegenüber ist nicht einheitlich: Teils spürt man seine Sympathie mit ihr, teils verurteilt er sie rundheraus. Man kann nur staunen, daß Aragon in einem Jahr, in dem seine politischen Aktivitäten und seine Verpflichtungen als Direktor und Leitartikler der Zeitung Ce soir seine Zeit und Kraft in hohem Maße in Anspruch nahmen, die Muße fand, diesen komplexen, in vielen Teilen beschaulichen Roman zu schreiben.
Trotz der Bedeutung des Werkes - es ist zweifelsohne eines der wichtigsten Aragons - ist Les Voyageurs de l'impériale der Roman des Autors, dem sich die Forschung bisher am wenigsten zugewandt hat. Dieser Zustand ändert sich zurzeit mit der Veröffentlichung des Romans in der Bibliothèque de la Pléiade und der Aufnahme des Werkes in das Programm der Agrégation 2001-2002.
Zur Bedeutung des Titels des Romans Aragon läßt Pierre Mercadier innerhalb des Romans die Bedeutung des Titels erklären. Er vergleicht die Gesellschaft mit einem riesigen Omnibus, der schicksalhaft einer Katastrophe entgegensteuert. Die Fahrgäste dieses Omnibusses werden in zwei Kategorien eingeteilt:
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Anmerkungen:
1. Die Dreyfus-Affäre ist mit zahlreichen Websites im Internet vertreten; siehe z.B. die offizielle Site der Dreyfus Society
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Letzte Änderung: Dernière mise à jour: |
08.09.2001 |
Verfasser - Auteur: | Wolfgang Babilas |
E-mail: | babilas@uni-muenster.de |
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