Drei Geschichten
Pandemiebedingt mussten am Fachbereich Geschichte/Philosophie der WWU Münster leider einige in den vergangenen Jahren neuberufene Professor:innen auf eine reguläre Antrittsvorlesung verzichten. Drei von ihnen haben diese nun nachgeholt – und zwar gemeinsam: Am vergangenen Donnerstag luden Prof. Dr. Silke Mende, Prof. Dr. Carla Meyer-Schlenkrich und Prof. Dr. Ricarda Vulpius in den Hörsaal F1, um sich vor großem Publikum in ihren Disziplinen zu verorten: der Neueren und Neuesten Geschichte, der Westfälischen Landesgeschichte und der Osteuropäischen Geschichte.
Zum Auftakt reichte Prof. Dr. Carla Meyer-Schlenkrich eine brisante Frage an das Publikum weiter: Braucht es die Disziplin einer Landesgeschichte überhaupt, und was wäre ggf. deren Aufgabe? Meyer-Schlenkrich stellte klar, dass sie angetreten ist, den Vorwurf zu entkräften, Landesgeschichte sei einfach nur Geschichte mit einem regionalen Schwerpunkt. Dazu zeichnete sie zunächst die Konturen der Fachwerdung von Landesgeschichte nach: Einer affirmativen Phase, die – auch in Münster – ihren Tiefpunkt in der Andienung an das Naziregime fand, folgte eine Phase, die mit dem entgegengesetzten Anspruch scheiterte: nämlich eine dezidiert unpolitische Landesgeschichte zu betreiben. Man müsse, so Meyer-Schlenkrich, das Geschäft der Landesgeschichte heute zugleich als Konstruktion wie auch als Dekonstruktion von „Heimat“ begreifen. Dieser zuletzt sogar ministerial wiederbelebte Begriff sei zwar nach wie vor umstritten. Gleichwohl ergebe sich im Zuge des „spatial turns“ eine Hinwendung zu einem verräumlichten Zugang zu Geschichte. Entscheidend sei es dabei, Landesgeschichte nicht isoliert von anderen geschichtlichen Disziplinen zu betreiben.
Auch Prof. Dr. Ricarda Vulpius griff zu Beginn eine Infragestellung ihrer eigenen Disziplin auf, wenngleich eine, die schon etwas zurückliegt: Nach der politischen Wende um und ab 1989 mehrten sich Stimmen, die nun eine Osteuropäische Geschichte für nicht mehr erforderlich hielten. Vulpius zeigte demgegenüber auf, wie wichtig diese Disziplin gerade heute ist, so traurig es auch sei, dass die Einsicht in deren Aktualität durch den Angriffskrieg auf die Ukraine gewachsen ist. Anknüpfend an die Bezugnahme Putins auf die russischen Eroberungen der Zarenzeit empfahl Vulpius, die Geschichte des imperialen Russlands von der Peripherie her zu denken. Beispielhaft führte sie an der Person Otto Heinrich von Igelströms vor, wie Russland nach der Eroberung der Ostseeprovinzen die dortigen deutschsprachige Eliten in die Reichsverwaltung einband und zum Teil mit höchsten Ämtern versah. Vulpius zufolge liegt hierin ein eklatanter Unterschied zur Politik Putins – dessen Berufung auf Peter den Großen sei folglich total fehlgeleitet.
Prof. Dr. Silke Mende schloss den Reigen der disziplinären Selbstvergewisserungen. Aktuelle Krisen und Umbruchsdiagnosen nahm sie zum Ausgangspunkt, um nach den Möglichkeiten einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte als Epoche und Perspektive zu fragen. Im Sinne einer „Vorgeschichte unserer Gegenwart“ plädierte sie zum einen dafür, die gesellschaftspolitischen Umbrüche der 1970er Jahre stärker mit der Zäsur von 1989/91 in Bezug zu setzen. Zum anderen gelte es, die (post-)imperialen Bezüge der europäischen Zeitgeschichte noch stärker zu berücksichtigen. Für ihre wissenschaftliche Tätigkeit in Münster habe sie sich dementsprechend zwei Themenkomplexe vorgenommen: zum einen die Zeitgeschichte der Demokratien, in der Aufbruchsbewegungen ebenso zu erkennen seien wie neue Bedrohungen; zum anderen die Frage, wie europäisch Europas Zeitgeschichte sei, ob also Europa vor allem von Westeuropa her gedacht worden sei und inwieweit die Geschichte der europäischen Staaten in einer (post-)kolonialen Perspektive ausreichend Berücksichtigung finde.
Einen würdigen Ausklang fand der Abend mit einem Empfang im Foyer vor dem Hörsaal sowie vor dem Fürstenberghaus. Bei Sekt und kleinen Gaumenfreuden stellten sich die Neuberufenen den Fragen und Gratulationen der Gäste.