Einführungen in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts | ||
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WILHELM HEINRICH RIEHL
(* 6.5.1823 in Biebrich/Rhein, † 16.11.1897 in München)
(ml) Nach dem Studium der protestantischen Theologie (1841-1843 in Marburg, Tübingen und Gießen) hörte Riehl in Gießen und Bonn Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte, u.a. bei Moritz Carrière, Ernst Moritz Arndt und Christoph Dahlmann. Er arbeitete seit 1845 als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen, u.a. 1851-1854 als deutschlandpolitischer Redakteur bei Johann Georg v. Cottas Augsburger Allgemeinen Zeitung, die eine führende Stellung in der deutschen Presselandschaft innehatte. Von dort holte ihn König Maximilian II. als "Oberredakteurs der Preßangelegenheiten" an den Münchener Hof, eine Stelle, die auch mit der Leitung der halboffiziellen Neuen Münchener Zeitung verbunden war. Er erhielt zusätzlich eine Honorarprofessur an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität München, die 1859 in eine ordentliche Professur für Kulturgeschichte und Statistik umgewandelt wurde. 1873/4 und 1883/84 war er Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität.
Seit 1855 stand er dem Statistischen Bureau vor. 1861 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Seit 1885 war er auch Direktor des Bayerischen Nationalmuseums und Generalkonservator der Kunstdenkmäler und Altertümer Bayerns.
Riehls wissenschaftliches Hauptwerk sind ist die vierbändige »Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik« (Bd. 1: »Land und Leute« [1853], Bd. 2: »Die bürgerliche Gesellschaft« [1851], Bd. 3: »Die Familie« [1854], Bd. 4: »Das Wanderbuch« [1869]), die mehrere Neuauflagen erlebte und zu einem vielgelesenen Werk im Bildungsbürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde. Hauptgegenstand des wissenschaftlichen und schriftstellerischen Werkes von Wilhelm Heinrich Riehl sind "Land und Leute" und "das deutsche Volk und seine Gesittung". Riehl gehörte damit zu den ersten, die Volkskultur, Brauchtum und Traditionen als eigenständigen historisch-gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand ansahen. Seinem bereits 1858 unternommenen Versuch, eine "Volkskunde" als akademische Disziplin zu etablieren, war aber zunächst kein Erfolg beschieden. Dies mag auch an daran gelegen haben, dass Riehl sich nicht nur vom Gegenstand der dominierenden politischen Geschichte, sondern auch von spezialisiertem Fachgelehrtentum und verwissenschaftlicher Weltferne abwandte und in narrativ-essayistischem Stil zum Teil auf selbst erwanderten Erfahrungen beruhendes verfasste. Heute allerdings gilt er für viele wegen seines kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Ansatzes als Wegbereiter oder Begründer der Volkskunde, der Kulturgeschichte und der Soziologie
Riehl vertrat, wie im Titel seines Hauptwerks deutlich wird, ebenso wie Le Play die enge Verknüpfung von Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. In seinem Werk nimmt die Familie als Basiseinheit des Gemeinwesens eine zentrale Rolle ein. Innerhalb der Familie kommt dem Vater eine autoritäre Rolle zu, die konstitutiv für die gesamte Gesellschaft ist: Ein Staat, in dem die väterliche Autorität verfällt, wird bald unregierbar.
Riehls Gesellschaftslehre unterscheidet zwei Stände der "Beharrung" (Adel und Bauerntum) und zwei Stände der "Bewegung" (Bürgertum und Vierter Stand, also Arbeiterschaft/Proletariat). Die Bauern bilden hierbei das konservative Rückgrat der deutschen Nation, wobei insbesondere den Hofbauern Riehls besondere Aufmerksamkeit gilt. In »Die Familie« spielt die sozial integrative Funktion der Hofgemeinschaft aus Kernfamilie, Großeltern und Dienerschaft eine bedeutende Rolle. Hier konstituiert Riehl den Untersuchungsgegenstand das ganze Haus, der nach dem Zweiten Weltkrieg durch Otto Brunner zu einem zentralen Konzept der deutschen Sozialgeschichte wird. Riehls Darstellungen eines idyllischen bäuerlichen Ideals und sein Ziel einer "Wissenschaft vom Volk" hatten zuvor seit der Jahrhundertwende im nationalkonservativen Bürgertum und besonders im Dritten Reich breite Rezeption gefunden, die spätestens seit den siebziger Jahren eine dezidierte Ablehnung durch Volkskundler und Soziologen nach sich zog.
Literatur:
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