Einführungen in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts | ||
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PIERRE-GUILLAUME-FRÉDÉRIC LE PLAY
(* 11.4.1806 in Rivière-Saint-Sauveur/Calvados, † 5.4.1882 in Paris)
Le Play beendete 1829 mit Auszeichnung sein Studium als Bergbauingenieur an der École des mines in Paris. Dorthin kehrte er als Lehrender 1847-1854 zurück. 1855 wurde er kurzfristig zum Generalkommissar für die Pariser Weltausstellung berufen, deren zuvor gefährdete Durchführung er sicherstellte. Auch bei der Organisation der Weltausstellung in London (1862) und erneut als Cheforganisator der Weltausstellung von 1867 (Paris) spielte er eine bedeutende Rolle.
Mehr noch als Bergbau und Organisationstalent machte aber
seine Beschäftigung mit den Grundlagen von sozialem Frieden und dem Wohlstand
der Nationen Le Play bekannt.
Bereits im Sommer 1929 unternahm er mit seinem Freund Jean
Reynaud eine Reise durch die Rheinprovinz, nach Hannover, Braunschweig, Preußen
und Belgien, auf der sie in Sozialstudien besonders städtische und ländliche
Arbeiterfamilien untersuchten. Nach einem Experimentierunfall, der seine Hände dauerhaft verletzte,
beschloss er, sein Leben ganz der empirischen Forschung zu widmen. Zwischen 1833 und 1845
unternahm er lange Reisen durch Spanien, Belgien, Großbritannien, Russland,
Norwegen, Skandinavien, Deutschland, Österreich, Ungarn und Norditalien, bei
denen sein Interesse immer sowohl der Metallurgie (in Russland war er mehrfach
Berater von Nikolaus I. und wurde von Fürst Anatol Demidoff mit der
Oberaufsicht über dessen Gold-, Silber-, Platin-, Kupfer- und Eisenerzminen im
Ural betraut) als auch den Lebensbedingungen und der Lebensführung der
Bevölkerung galt. Besonders für letzteres schuf bzw. verfeinerte er eine systematische
Beobachtungsmethode, die ihm vergleichende Studien von
Familien in verschiedenen Ländern ermöglichte.
Wie Riehl war auch Le Play kein
Anhänger akademischer Buchgelehrsamkeit. Er suchte seine Erkenntnisse abseits
der Bibliotheken, befragte in z.T. nach langen Wanderungen erreichten Dörfern
Arbeiter und Bauern. Seine Fallstudien stellen noch heute wertvolles empirisches
Material zur Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts dar.
1855 legte er erstmals seine Forschungsergebnisse in einem
systematischen Werk zur europäischen Arbeiterschaft nieder: »Les ouvriers
européens, études sur les travaux, la vie domestique et la
condition morale des populations ouvrières de l'Europe« enthält Fallstudien zu materiellem und sittlichem Leben von 36
Arbeiterfamilien aus den von Le Play bereisten Ländern. Sein zweites
bedeutendes Werk, »La Réforme sociale en France, déduite de
l'observation comparée des peuples européens« (1864), stellt einen Katalog sozialer
Grundregeln auf und prangert die gesellschaftlichen Zustände während der
Industrialisierung an, in der die wirtschaftlich-materiellen Erfolge die
Quellen moralischen Lebens ausgetrocknet hätten. Le Play selbst trat vehement für
Sozialreformen ein, u.a. durch die 1856 von ihm gegründete Société
d´économie et des sciences sociales. Er war auch Berater Napoleons III. auf
diesem Feld. 1871, nach dem Ende
des deutsch-französischen Krieges und der Pariser Kommune, veröffentlichte er
»L'organisation de la famille, selon le vrai modèle signalé par
l'histoire de toutes les races et de tous les temps«.
Die Familie ist bei Le Play das "wahrhafte soziale Molekül" (véritable molécule sociale), ein Element der Kontinuität in Zeiten des Wandels und moralischen Niedergangs. Le Plays sozialpolitisches Konzept versucht, abseits von Sozialismus und liberalem Individualismus Reformen nach dem Vorbild der Familie und der väterlichen Autorität in allen Gesellschaftsbereichen (Familie, Unternehmen, Staat, Kirche) zu erreichen. Le Play untersuchte gerade die einfachsten Familien, um ihre reinen Charakteristika herauszuarbeiten, die vielfach durch die Auswirkungen der Moderne bereits verfälscht seien. In seinem Dekalog "universeller" Bedingungen des Wohlstandes nimmt die bodenbesitzende und stabile "Stammfamilie", in der drei Generationen unter der Führung des Vaters zusammenleben, eine bedeutende Rolle ein. Er betont außerdem die soziale Verantwortung des Besitzes und die Gegenseitigkeit der Verpflichtung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Weitere Informationen: http://www.annales.org/archives/x/leplay.html (auf französisch).
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