Literarische Form
© Jody Harvey-Brown

Der dynamische Modell- und Formbegriff des Graduiertenkollegs „Literarische Form“ konkretisiert sich in drei Gegenstandsbereichen: Formtheorie (Konzeptgeschichte), Formverfahren (Gattungsgeschichte) und Formkultur (Transfergeschichte). Sie repräsentieren die historischen und systematischen Aspekte, unter denen literarische Formbildung in konkreten Dissertationsprojekten perspektiviert werden kann. Einzelne Promotionsthemen werden gemäß ihrer jeweiligen Schwerpunkte jeweils einem dieser Bereiche zugeordnet, können aber durchaus auch unter mehreren dieser Aspekte untersucht werden.

Unter den Überschriften in der rechten Navigationsleiste finden Sie genauere Erläuterungen zu den drei Schwerpunktbereichen.

Die folgenden vier Thesen zum Verhältnis von Modell und Form bilden die systematische Grundlage wichtiger Überlegungen, die im Rahmen der Forschung des Graduiertenkollegs aufgegriffen werden:

1. Konkrete Formen sind die Folge einer Modellierung (Herstellung mit Hilfe von Modellobjekten) des Realen (Aktuellen) und Fiktiven (Virtuellen). Diese Modus-übergreifende Modellbildung ist stets kultur-, diskurs- und gattungshistorisch markiert.
   

2. Modelle sind als funktionale Abstraktionen Abbilder komplexerer Objekte und Prozesse (‚Modell von x‘). Umgekehrt bewirken sie – als Vorbilder und Vorschriften für zukünftige Produktion, Reproduktion, Erprobung, Regulierung und Bewertung – auch die Formung neuer Gegenstände (‚Modell für y‘, vgl. Mahr 2004a).

3. Modellbildung erfolgt in medialen Repräsentationsverfahren, die systemisch offen sind. Hier funktioniert sie als Ermöglichungsbedingung emergenter Phänomene, als Verfahren, das durch Kopplung und Entkopplung seiner Elemente Formen generieren, stabilisieren und auflösen kann (vgl. Luhmann 1995). Im ästhetischen Zusammenhang ist dies v.a. bei der Gattungsbildung relevant; als Strategie der Wissensproduktion vermittelt der Modellbildungsprozess tradierte Wissensordnungen und stiftet neue.
     

4. Ästhetische Modellbildung entwickelt ihr Erkenntnispotenzial auf zweierlei Weise. Sie eröffnet einen epistemologischen Verhandlungsraum mit Hilfe von Fiktionsformaten, die sie vom pragmatischen Entscheidungsdruck entlasten (Fiktionalität) bzw. über virtuelles Probehandeln neue Anwendungsbereiche eröffnen (Simulation). Zum anderen sind ihre Darstellungsverfahren auch in hohem Maße für das epistemische Design der nichtästhetischen Diskurse (Terminologiegenese und  transfer, heuristische Metaphern, Bildgebungs- und Argumentationsrhetorik) relevant (Poetizität).

In der Geschichte der Ästhetik, Poetologie und Literaturtheorie erscheint der Formgedanke als Konzept von geradezu proteischer Wandelbarkeit. Allen aktuellen Definitionen literarischer Form ist der Respekt vor dieser Aufgabe anzumerken, geht es doch um die Bestimmung einer philologischen Grundlagenkategorie, die schon Theodor W. Adorno als „blinden Fleck von Ästhetik“ bezeichnet (Adorno 1998 [1970], 11). Im historischen Verlauf der Theoriebildung wird allerdings der Übergang von ganzheitlichen und auf Evidenzerfahrungen gestützten Form-Begründungen zu differenzbasierten Ansätzen erkennbar, etwa in Systemtheorie und Dekonstruktion. Fragen nach den Ursachen für Formwandel und Formkonstanz in nationalen und globalen wie auch in mediengeschichtlich motivierten Veränderungsprozessen werden hierdurch aber nicht erledigt; sie gewinnen vielmehr im Zusammenhang der interdiskursiven Forschungsdiskussion besondere Prägnanz.

Systematisch nimmt das Graduiertenkolleg Dieter Burdorfs definitorische Unterscheidung zwischen einem „emphatischen“ und einem „technischen“ Formverständnis zum Ausgangspunkt (Burdorf 2001, 2). Während nach ersterem jede ästhetische, „ja jede kulturelle Form [letztlich] der Ausdruck […] des Lebens ist“, verlangt ein technisches Formverständnis vom Autor, „durch das Studium aller relevanten Traditionsbestände und durch deren experimentelle und kreative Weiterentwicklung diejenigen ästhetischen Formen zu finden und literarisch einzusetzen, die zur Erreichung der mit dem jeweiligen Text beabsichtigten Ziele am besten geeignet sind“. Damit steht zugleich der Textbegriff zur Diskussion, was wiederum die Problematisierung des Kontextbegriffs nach sich zieht.

Die Auseinandersetzung mit den Kernthemen der Literaturwissenschaft wird vom Graduiertenkolleg entschieden im Horizont kulturwissenschaftlicher Forschung verhandelt. Damit kann der modell- und formbetonte Ansatz auf ein inzwischen erkanntes Defizit reagieren, das im Rahmen des Cultural Turn und der französisch-angelsächsisch dominierten Theoriedebatte entstanden und vor allem in der Marginalisierung des Konzepts literarischer Form virulent geworden ist (vgl. schon Liu 1989). Er reagiert damit zugleich auf das in jüngster Zeit verstärkt erkennbare Interesse, das der innerphilologische Diskurs unter Stichworten wie ‚New Aestheticism‘, ‚New Formalism‘, ‚Gattungstheorie‘ oder ‚Narratologie versus Ludologie‘ der Formästhetik und Modellbildung entgegenbringt. Die Arbeit des Kollegs führt diese Ansätze unter folgender heuristischer Leitfrage zusammen: Wie kann der Formbegriff als zentrales literaturwissenschaftliches ‚Exportgut‘ im inner- und interdisziplinären Dialog neu konfiguriert werden

Das Graduiertenkolleg verfolgt einen kulturpoetischen Ansatz.
Das Graduiertenkolleg verfolgt einen kulturpoetischen Ansatz.

Auch in historischer Hinsicht geht das Graduiertenkolleg also von einem dynamischen Formbegriff aus, der Form als Spannungsfeld stabiler und mobiler Elemente denkt. Der systematische Zusammenhang von Formung und Modellbildung wird hierbei selbst als ein kulturhistorischer beschrieben, der sich in konkreten literarischen Objekten niederschlägt. Er lässt sich dem Zusammenspiel der fiktionalen Formen mit den diskursiven, kulturellen und ästhetisch-medialen Praktiken der jeweiligen Zeit entnehmen. Dieser Forschungsansatz wird als ‚Kulturpoetik‘ beschrieben. Er fokussiert drei größere Projektbereiche, die eng aufeinander bezogen sind: 1. Formtheorie als Poetologie der Form (Konzeptgeschichte), 2. Formverfahren als dynamisches Prinzip der Gattungs- und Transformationstheorie (Gattungsgeschichte) und 3. Formkultur als Praxis des kultur- und medienübergreifenden Formentransfers (Transfergeschichte). Diese Öffnung und Erweiterung des literarischen Begriffs der Form im Grenzbereich von epistemischer, kulturspezifischer und technologischer Modellbildung ist das zentrale Forschungs- und Vermittlungsinteresse, das die einzelnen Projekte des Kollegs zusammenführt. Modellbildung wird somit einerseits verstanden als diskurshistorische Kategorie mit eigener Konzeptgeschichte im Bereich der literarischen Fiktion und anderer Fiktionsformate; andererseits als analytisch-systematische Kategorie, durch die sich literarische und außerliterarische Verfahren transdisziplinär vergleichen und beschreiben lassen.

Zitierte Literatur:

Adorno, Theodor W.: „Ästhetische Theorie“. In: Rolf Tiedemann (Hrsg.): Adorno, Gesammelte Schriften. Bd.7. Darmstadt 1998.

Burdorf, Dieter: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart 2001.

Liu, Allan: „The Power of Formalism: The New Historicism“. In: ELH 56 (1989). S. 721-771.

Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995.

Mahr, Bernd: „Das Mögliche im Modell und die Vermeidung der Fiktion“. In: Thomas Macho und Annette Wunschel (Hrsg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt a.M. 2004. S.161-187.

↑Oben