Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung
Die Rückkehr der Form
Form und Modell
Formtheorie
Formverfahren
Formkultur
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1. Die Rückkehr der Form
Das Interesse, das sowohl der wissenschaftshistorische als auch der philologische und medienwissenschaftliche Diskurs dem traditionsreichen Konzept der Form in jüngster Zeit entgegenbringen, deutet auf ein überraschendes Desiderat: die Eigenmacht der literarischen Fiktion. Das neue ‚Formbewusstsein‘ reagiert v.a. auf zwei gegenläufige Tendenzen innerhalb der Forschung, die man als Entgrenzung und Verengung der Funktion des Literarischen bestimmen kann: auf seine wissens- und diskurshistorische Erweiterung sowie auf seine Eingrenzung als Narrativ. So aufschluss- und ertragreich beide Ansätze auch sind – sie neigen zur Verdunklung jener produktionsästhetischen Verfahren, die man einst als „Formensprachen“ oder als „Gestaltbildung“ bezeichnet hat (Walzel 1923 u.a.). Dass diese ‚Formpoetik‘ (Burdorf 2001) keine Rückführung auf reine Immanenz bedeuten muss, ergibt sich schon aus André Jolles’ Einbindung der jeweiligen „Formenwelt“ in ihren epistemisch-historischen Kontext, die „Geistesbeschäftigung“ einer Zeit. Doch impliziert der Formgedanke umkehrt auch keine Aufgabe semiotischer Detailbeobachtung. Es gelte vielmehr, „zu beobachten, wann, wo und wie Sprache, ohne aufzuhören Zeichen zu sein, zu gleicher Zeit Gebilde werden kann und wird“ (Jolles 1930).
Die Münsteraner Tagung ‚Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung‘ greift dieses neue Interesse an der Form und ihrer Modellierung, an der Formpoetik und der Formgeschichte programmatisch auf (vgl. Petersen 2014) und will sich ihnen durch gut theoretisierte Fallstudien aus einem breiten literarhistorischen Spektrum nähern. Sie fragt nach der Funktion konkreter Formverfahren (Formgenese, Formenwandel, Formtransfer), nach den Formierungsgraden oder „Aggregatzuständen“ (etwa im Konzept des mittelalterlichen ‚Gattungswissens‘ oder auch in André Jolles’ Reihe ‚Einfache Form‘ – ‚Vergegenwärtigte Form‘ – ‚Bezogene Form‘, Jolles 1930), nach Formmilieus und Formkulturen und nach Strategien der Formpolitik. Der Formbegriff schließt überdies die Abrenzung von konkurrierenden Funktionsbestimmungen wie ‚Signatur‘, ‚Kontur‘, ‚Gestalt‘, ‚Struktur‘, ‚System‘ etc. mit ein. Zu diesem Kontext zählen auch historische Binäroppositionen, die – wie ‚Chaos vs. Form‘, ‚Materie vs. Form‘ und ‚Inhalt vs. Form‘ – besonders wirkungsmächtig waren, ebenso wie konkurrierende dynamisierende Verfahren, etwa die Konzepte ‚Morphologie‘ und ‚innere Form‘, samt Überlegungen zur Form als operationaler Selbstreferenz (Systemtheorie).
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2. Form und Modell
Literarische Texte erschaffen Modelle von Wirklichkeit, die über künstlerische Form gestaltet und durch diese sichtbar, deutbar und gestaltbar werden. Umgekehrt sind künstlerische Formen Resultate einer Modellierung, der entwerfenden, erprobenden und regulierenden Bezugnahme, die auf der Mikroebene der Textverfahren ebenso wie auf der Mesoebene der Konzeptionen und der Makroebene der kulturellen Felder Möglichkeits- und Handlungsräume öffnet und begrenzt. Folglich wird die Literarhistorie – als Geschichte literarischer Verfahren und Modelle – durch die wechselseitige Beziehung von Kultur, Diskurs, Modell und Form prozessiert: „Kunstwerke“, so kann man sagen, „werden diskursiv in ihrer Form“, Diskurse werden Form im Kunstwerk (Baßler 1994). Literarische Diskursformate stellen hier die Wissens-, Handlungs- und Strukturmodelle zur Verfügung; in Fiktionsformaten werden zeitgenössische Diskurse prä- und re-modelliert.
Das intrikate gegenseitige Konstitutionsverhältnis von Modell und Form, Modellbildung und Formgebung in künstlerischen Produktionen steht im Mittelpunkt der Tagung des Münsteraner DFG-Graduiertenkollegs ‚Literarische Form‘. Heuristisch lässt sich das Konzept der Form als ein dynamisches Zusammenwirken dreier Modellierungsebenen befragen: der Ebene konzeptueller Modellierung mittels einer hypothetischen Modellannahme (Urteil), der Ebene semiotisch-materialer Modellierung (Repräsentation/Verfahren) und der Ebene generischer Modellbildung (Klassifikation/Normierung/Konvention). Man könnte somit auch von einer ‚doppelten Verzeitlichung‘ der Formen im Prozess der Modellierung sprechen: Sie sind einerseits modellbildend als Möglichkeitsbedingung, Quelle, Medium und Generator literarischer (und außerliterarischer) Modelle (etwa anschlussfähiger Strukturkomplexe, (Master-)Tropen, exemplarischer Figuren oder Prototypen, Gattungen, poetologischer Kalküle und Poetiken). Zum anderen erscheinen sie als Resultate oder Applikate einer vorgängigen literarischen (und außerliterarischen) Modellbildung (Mahr 2012, Tenev 2012, Wendler 2013).
Die Tagung fragt daher nach drei Bereichen einer Formgeschichte, die zugleich auch als Geschichte literarischer Modelle sichtbar werden soll: 1. Formtheorie als Poetologie der Form (Konzeptgeschichte), 2. Formverfahren als dynamisches Prinzip der Zeichen- und Textproduktion (Verfahrensgeschichte), 3. Formkultur als Praxis des kultur- und medienübergreifenden Formentransfers (Transfergeschichte). Zu diesem Zweck vereint die Tagung klassische Ansätze der Form- und Gattungsforschung mit aktuellen Positionen sowie Überlegungen zur interdisziplinären Modelltheorie.
↑Oben