Es geht um politische Verhandlungen, aber auch um vertrauliche Einschätzungen von Herrschern und Bischöfen im Ersten Weltkrieg und in den Jahren danach: Der Münsteraner Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf und sein Team können in den kommenden drei Jahren weiter Berichte aus den Jahren 1917 bis 1929 veröffentlichen, die der "vatikanische Botschafter", Nuntius Eugenio Pacelli, aus Deutschland nach Rom schickte. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bewilligte jetzt den Verlängerungsantrag für das 2008 begonnene Langfristvorhaben.
Die Nuntiaturberichte zeigen laut Wolf etwa, wie der Heilige Stuhl im Ersten Weltkrieg versuchte, zwischen den Fronten zu vermitteln – letztlich ohne Erfolg. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. kommt dabei nicht gut weg. "Eugenio Pacelli bezeichnete ihn nach einem Treffen als überspannt und nicht ganz normal", berichtet der Kirchenhistoriker. Nach der gescheiterten Friedensinitiative Benedikts XV. habe sich der Vatikan dann vor allem bemüht, die Situation der zahlreichen Kriegsgefangenen zu verbessern. In den folgenden Jahren gerieten die Gründungsphase der Weimarer Republik und ihre Krisen, etwa die Rheinlandbesetzung und die Inflation, in den Fokus des Nuntius. Außerdem kommentierte er wiederholt die Politik der katholischen Zentrumspartei.
"Spannender als Vatileaks"
"Für mich als Kirchenhistoriker sind diese vertraulichen Berichte spannender als die Dokumente, die in den Wikileaks- und Vatileaks-Affären öffentlich wurden", sagt Wolf. Die Nuntiaturberichte lassen nach seinen Worten auch erkennen, welche personellen Netzwerke es im Vatikan gab und wie Entscheidungen getroffen wurden, zum Beispiel, wie Bischöfe "gemacht" wurden. Der damalige Papst Pius XI. habe mit seinem eigenmächtigen Regierungsstil auch die nachfolgenden Pontifikate geprägt. "Erst Franziskus wagt jetzt den Bruch, indem er neue Beratergremien schafft", so Wolf.
Bereits online einsehbar sind die Dokumente aus den Jahren 1917 bis 1923. Am Schluss wird die Edition mehr als 10.000 Berichte aus Deutschland und Weisungen aus Rom sowie zahlreiche Anlagen umfassen. "Jeder kann sie im Internet im Volltext durchsuchen", betont Wolf. Die Berichte selbst seien zwar in Italienisch verfasst, würden aber durch eine deutschsprachige Zusammenfassung ergänzt. "Außerdem erläutern wir alle zentralen Begriffe und angesprochenen Personen."
Eugenio Pacelli wurde nach seiner Zeit in Deutschland Kardinalstaatssekretär in Rom und 1939 als Pius XII. selber Papst. Wegen seines angeblichen Schweigens zur Verfolgung der europäischen Juden gehört er laut Wolf "zu den umstrittensten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts". Schon als Nuntius habe er sich nicht nur um die Politik im Deutschen Reich, sondern auch um die kirchenpolitischen Entwicklungen in der Tschechoslowakei, in Litauen und in Palästina gekümmert. "Sogar mit der sowjetischen Regierung verhandelte er im Geheimen."
Innovative Editionstechnik
Die Gutachter der DFG würdigten nicht zuletzt die erfindungsreiche technische Umsetzung der Online-Edition. So werden Einfügungen und Streichungen innerhalb eines Berichts, die den jeweiligen Nuntiaturmitarbeitern zugeordnet werden können, in verschiedenen Farben dargestellt.
Als "Langfristvorhaben" fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft geistes- und sozialwissenschaftliche Projekte bis zu zwölf Jahre lang. Im Pacelli-Projekt arbeiten in Münster neben Hubert Wolf die Historiker Dr. Sascha Hinkel und Christoph Valentin, die Juristin Dr. Maria Pia Lorenz-Filograno sowie die Philologinnen Elisabeth Richter und Giovanna De Serio. Das Team kooperiert unter anderem mit dem Deutschen Historischen Institut Rom und dem Vatikanischen Geheimarchiv, wo auch alle Nuntiaturberichte aus der Amtszeit des Papstes Pius XI. (bis 1939) seit September 2006 der Forschung zugänglich sind.