Vatikanische Archive öffnen Bestände
Es gibt neue Quellen aus einer Zeit der extremen Verbrechen und weltgeschichtlichen Umbrüche: In den vatikanischen Archiven sind die Bestände aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. (1939 bis 1958) zugänglich geworden. Prof. Hubert Wolf ist mit seinem Team vor Ort. Er wird gemeinsam mit Dr. Barbara Schüler, Dr. Sascha Hinkel, Dr. Elisabeth-Marie Richter, Dr. Judith Schepers, Michael Pfister und Matthias Daufratshofer Antworten auf einige der meistdiskutierten Fragen der Kirchengeschichte suchen.
Vor allem anderen geht es um die Motive, die Pius XII. davon abhielten, laut und deutlich gegen die Ermordung der europäischen Juden zu protestieren. Darüber hinaus sind viele weitere Fragen offen: Was wusste der Papst von der Fluchthilfe hochrangiger Kurienmitglieder für deutsche und kroatische Kriegsverbrecher? Was beeinflusste seine Haltung zur Gründung Israels? Und warum blickte er nach 1945 kaum einmal auf die Zeit der Shoa und des Zweiten Weltkriegs zurück, um über Verantwortung und Schuld zu sprechen?
„Als Global Player hat die Römische Kurie unter Pius’ XII. Weltgeschichte geschrieben“, betont Wolf. Neben dem Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum seien daher zahlreiche weitere spannende Themen zu berücksichtigen. Dazu zählten die Rolle des Vatikans bei der Demokratisierung und Westbindung der Bundesrepublik, bei den Anfängen der Europäischen Einigung und im Kalten Krieg. „Wir haben außerdem Hinweise, dass es sehr aufschlussreiche Quellenbestände zur Wahrnehmung des Islams durch die katholische Kirche gibt“, sagt Wolf. Auch zur Entkolonialisierung in Afrika und Asien seien neue Einsichten zu erwarten. „Und viele weitere spannende Themen werden sich aus der Arbeit mit den Quellen ergeben.“
Das Medieninteresse an der Archivöffnung und der Arbeit der Münsteraner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist enorm. Allein im Vatikanischen Apostolischen Archiv – bis 2019 „Vatikanisches Geheimarchiv“ genannt – sind jetzt mehr als 200.000 Aktenbündel und Kartons neu zugänglich, die jeweils bis zu 1.000 Blatt enthalten. Weitere Quellen liegen unter anderem in den Archiven der Glaubenskongregation, der Nachfolgeorganisation der Römischen Inquisition, und des Staatssekretariats, das mit einem Außenministerium zu vergleichen ist.
Hubert Wolf und sein Team sind gut auf die Archivöffnung vorbereitet. Sie forschen bereits seit mehreren Jahren mit vatikanischen Dokumenten, die bei frühereren Archivöffnungen zugänglich wurden. Außerdem recherchierten sie in anderen Archiven und werteten die Fachliteratur aus. Wolf nutzte dazu vor allem Mittel des Leibniz-Preises, den er 2003 erhielt. Auf den Beständen aus dem Pontifikat Pius’ XII., die seit 2003 beziehungsweise 2006 einsehbar sind, basiert die Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis. So hieß Pius XII. mit bürgerlichem Namen. In den Jahren 1917 bis 1929 berichtete er als Gesandter des Papstes ausführlich aus Deutschland nach Rom.
Die Forschungen am Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster werden durch die Stiftung Alfried Krupp von Bohlen und Halbach unterstützt, aus deren Mitteln die Reisekosten und zwei halbe Stellen für die Teammitglieder finanziert werden.