"Sorge – Care. Anthropologische Zugänge – Ethische Konzepte – Gesellschaftliche Praxen"
Am Sonntagabend, 10. September 2023, wurde in der Akademie Franz Hitze-Haus in Münster der 41. Kongress der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik eröffnet. Drei Tage lang befassen sich über einhundert Fachvertreter:innen der theologischen Ethik mit dem Thema „Sorge – Care. Anthropologische Zugänge – Ethische Konzepte – Gesellschaftliche Praxen“. Gastgeberinnen sind die Professorinnen Marianne Heimbach-Steins (Institut für Christliche Sozialwissenschaften) und Monika Bobbert (Professur für Moraltheologie) der Münsteraner Katholisch-Theologischen Fakultät.
Dekan Professor Dr. Norbert Köster unterstrich in seinem Grußwort die lebensweltliche Bedeutung des Themas: „Es geht viele Menschen ganz unmittelbar persönlich an, auch mich“ sagte Köster mit Blick auf eigene Erfahrungen in der Angehörigenpflege und betonte: „Dass es unmittelbar angeht, ist selbst ein theologischer Aspekt!“
Als Vorsitzende der Vereinigung hob Marianne Heimbach-Steins in ihrer Einführung hervor, wie sehr das Thema Sorge / Care „an der Zeit“ ist – „nicht nur mit Blick auf jene Handlungsfelder, die wir üblicherweise mit dem Begriff „Care-Ethik“ verbinden“. Es seien vor allem „die großen Fragen des Zusammenlebens, die uns Sorgenfalten auf die Stirn zeichnen: die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen, Krieg und Gewalt, die Fragilität der Demokratie, Armut und Wohnungsnot, Fachkräftemangel u. a. in Pflege, Erziehung und Bildung.“ Moderne Care-Ethik in human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, in Philosophie und Theologie nimmt in alle diese Herausforderungen auf. Das Thema selbst ist aber nicht neu – schon der antike Mythos kennt die Gestalt der Sorge als Schöpferin des Menschen. Die Bibel verkündet einen Gott, der sich selbst der menschlichen Sorgen annimmt. Vor diesem Hintergrund fragte Heimbach-Steins, wie eine theologisch konturierte Care-Ethik Gerechtigkeit und Sorge zusammendenken kann: „Was bedeutet es für eine Care-Ethik, mit einer theologischen Rahmung zu arbeiten, die den Menschen als Wesen der Sorge Gottes in den Blick nimmt?“ Schließlich verwies sie auf die wissenschaftlich-berufsethische und besonders auf die theologiepolitische Dimension der Care-Ethik: „In der besonderen Konstellation theologischer Fakultäten und kirchlicher Hochschulen betrifft das Thema die Art und Weise, wie wir als wissenschaftliche Community mit Auswirkungen überzogener kirchlicher Eingriffe in Berufungsverfahren und mit Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit umgehen, die Kolleginnen und Kollegen verletzen und unsere Wissenschaft sowie ihr akademisches Standing gefährden. Die Konsequenzen eines autoritären, nicht-diskursiven und nicht beziehungsorientierten Habitus u. a. der römischen Instanzen betrifft Kolleginnen und Kollegen – und damit uns alle.“ Damit spielte sie auf die jüngste römische Intervention gegen die Berufung des Moraltheologen Martin Lintner zum Dekan an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen an.
Der politischen Dimension jeder Care-Ethik galt die Aufmerksamkeit im Eröffnungsvortrag von Professorin Dr. Regina Ammicht Quinn vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften. Ammicht Quinn, Theologin und Ethikerin, sprach über das Thema „‚Care‘ als Thema und ‚Care‘ als (kritische) Debatte über Struktur – auch in der theologischen Ethik?“ und nahm damit in einer erfahrungsbasierten, kritischen Analyse eben jene Dimensionen der Thematik auf, die Heimbach-Steins in ihrer Einführung eröffnet hatte. Auf die Erkundung der Frage „Wer – und was ist Sorge/Care?“ ließ sie eine doppelsinnige Diagnose folgen: Care ist „in der Krise“. Care reagiert auf Krisen – verbindet Wunden –, ist Krisen-Intervention. Aber die Sorgenden und ihr Handeln sind selbst ständig gefährdet, verletzlich. Dass sie allzu oft „falsch verbunden“ ist, zeigte Ammicht Quinn eindrucksvoll an der Verflechtung von Fürsorge und Kolonialismus – welfare-colonialism – in der frühen Moderne. Dass das Thema ist auch heute aktuell ist, etwa im Umgang mit ausländischen Reinigungs- und Pflegekräften, liegt auf der Hand: „Die Krise in Care“ ist nicht vorbei. Care-Ethik muss deshalb vor allem, so Ammicht Quinn, Wunden offenlegen, sich den Verwundbarkeiten stellen, die aus Machtverhältnissen, Diskriminierung und Exklusion erwachsen, und die Denkverhältnisse aufdecken, die diese verletzenden Strukturen rechtfertigen und auf Dauer stellen. Ethik, die „mit care“ denkt, muss wahr sprechen – in Bezug auf unsere Weltverhältnisse, auf unsere Wissensverhältnisse und auf unsere Denkverhältnisse. Das herausfordernde Fazit ihrer Überlegungen lautet: „Die Sorge … zeigt sich im Risiko, im Mut und in der Pflicht zum Wahrsprechen“.
Schon dieser Auftakt hatte es in sich. Ein erster nachdenklicher Austausch lässt als Auftakt in die kommenden Tage einen regen Diskussion Austausch und intensive Debatten erwarten. Mit der Eröffnung einer Posterausstellung, in der Forschungsprojekte mit Bezug zum Tagungsthema präsentiert werden, mündete der Abend in einen Empfang, der viel Raum bot für Wiedersehensfreude, gegenseitiges Kennenlernen und gute Gespräche.