Domimmunität
Auf dem Weg vom Dom durch die Domgasse zum Prinzipalmarkt stößt man nach wenigen Metern auf einen rot-weiß gestreiften überdimensionierten Bilderrahmen, das sog. „Tor zum Prinzipalmarkt“ des französischen Künstlers Daniel Buren. 1987 geschaffen, verweist es in seiner jetzigen Lage seit 2016 auf ein kleines Stück einer unscheinbaren mittelalterlichen Steinwand. Es handelt sich um den letzten noch erhaltenen Rest der Immunitätsmauer. Diese Mauer umschloss seit etwa 900 die mittelalterliche Domburg und bildete für lange Jahrhunderte die sichtbare Grenze zwischen der geistlichen Herrschaft und der Stadt Münster. Immunitäten zugunsten von Kirchen und Klöstern verliehen bestimmten Bauwerken mitsamt ihrem Umland seit der fränkischen Zeit vor allem die Freiheit von auswärtiger Gerichtsbarkeit und von Abgaben. Durch privilegiale Verleihung entstanden auf diese Weise Sonderrechtsbezirke, so auch in Münster.
Der umschlossene Domhof bildet den ältesten Teil der heutigen Stadt. Der größte Bereich scheint seit je unbebaut geblieben zu sein. Möglicherweise hatte sich hier die Erinnerung an ein vorchristliches Gräberfeld erhalten. Selbst nach der Christianisierung sind noch heidnische Tierbestattungen belegt. Die Bewohner der Domimmunität, überwiegend Kleriker und ihre Bediensteten, bis 1696 mit der allgemeinen Verpflichtung zur Ehelosigkeit, brauchten innerhalb der Stadt Münster keine Dienstpflichten zu leisten und unterstanden auch nicht dem Ratsgericht. Hier lebten die 41 Domherren des Domkapitels. Sie genossen das Münzrecht für Kleinmünzen und auch Jagdgerechtigkeiten im gesamten Oberstift Münster.
Ob auf dem Domhof ein geistliches Asyl im Rechtssinne bestand, war zwischen der Stadt und der Geistlichkeit streitig. 1401 jedenfalls ließ der Rat einen Mörder auf dem Domhof festnehmen und ins Gefängnis werfen. Bis mindestens 1588 sind Auseinandersetzungen um die Auslieferung Geflüchteter belegt. Zugleich beanspruchte das Domkapitel auch persönliche Immunitäten und verweigerte mit dieser Begründung die Überantwortung straffällig gewordener Domherren an die Stadt. Auch Beamte des Domkapitels, die innerhalb des Stadtbezirks lebten, unterstanden weitgehend der Gerichtsbarkeit des Dombezirks, ausgeübt durch den Domdechanten. Sogar 21 umliegende Kirchspiele, unter anderem in Telgte, Senden und Lüdinghausen, gehörten direkt zum Domkapitel. Teilweise kam es für die Abgrenzung der Gerichtssprengel darauf an, an welcher Stelle der Stadt sich Rechtsfälle ereignet hatten. Die genaue Verortung eines Tötungsdelikts führte im 17. Jahrhundert zur Anfertigung des ersten Stadtplanes von Münster. In einem Duell hatte Dietrich von Galen 1607 den Erbmarschall Gerhard Morrien getötet. Diese Tötungsszene wurde nachträglich auf den Stadtplan aufgeklebt, um den einschlägigen Gerichtsbezirk bestimmen zu können. Der spektakuläre Rechtsstreit gelangte schließlich bis zum Reichskammergericht in Speyer, der Stadtplan diente offenbar zum Augenscheinsbeweis.
Die eigene Gerichtsbarkeit des Dombezirks belegte eine Linde in der Nähe der heute nicht mehr vorhandenen St. Jakobikirche, der Pfarrkirche für die auf dem Domhof lebenden Laien. Für 1579/80 sind unter dieser Linde Verhandlungen zwischen dem Rat und dem Domkapitel über die Bischofwahl belegt. Die Huldigung der Ratsherren mitsamt Treueeid fand dagegen vor dem Paradieseingang des Domes statt. Die Kerssenbrocksche Chronik erwähnt für 1573 prächtige Kurien der Domherren, Rasenflächen und die Bepflanzung mit Linden und Eichenbäumen auf dem Domhof. Inmitten der dicht bebauten Stadt bot der vergleichsweise große Dombezirk damit neben seiner besonderen Rechtslage auch einen völlig anderen städtebaulichen Charakter.
Von der „ursprünglichen, weihevollen Stille“ (Geisberg) ging nach der Säkularisierung viel verloren, unter anderem durch die Verlegung weltlicher Behörden und die damit verbundene Belebung des Straßenverkehrs. Bereits in den 1920er Jahren soll der Domhof den Charakter eines Parkplatzes besessen haben. In den Jahren um 1850 gab es gerichtliche Streitigkeiten zwischen dem erneuerten Domkapitel und der Stadt Münster über das Eigentum am ehemaligen Immunitätsbezirk. Alle Prozesse gingen zugunsten der Stadt aus, letztinstanzlich 1851 vor dem preußischen Obertribunal in Berlin. Sonderrechte bestanden seitdem nicht mehr.
Peter Oestmann
Zum Weiterlesen
Josef Müller: Das Domkapitel Münster zur Zeit der Säkularisation, in: Westfälische Zeitschrift 71 (1913), S. 1-104.
Max Geisberg: Die Stadt Münster II: Die Dom-Immunität, die Marktanlage, das Rathaus (Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen 41/2), Münster 1933, S. 3-24.
https://www.skulptur-projekte-archiv.de/de-de/1987/projects/10/ (besucht am 8. Oktober 2024)
Franz-Josef Jakobi: Münster. Entstehung und Geschichte der Stadt vom 8. Bis 20. Jahrhundert, Band 1, Münster 2023, S. 7-16.