Akademisches Gericht und Karzer
„Mehrere Beschwerden und Klagen, welche in dem verflossenen Semester gegen Studierende der hiesigen Akademie eingegangen sind, machen die schleunige Einrichtung eines akademischen Carcers im eigentlichen Sinne nothwendig“, schreibt der Rektor der Akademie Münster, Wilhelm Esser, Anfang April 1834 an den Kurator. Bei einem Karzer handelt es sich um einen Arrestraum eines Gymnasiums oder einer Universität. In Münster befand er sich im nordwestlichen Flügel des Gebäudes der Alten Akademie im ehemaligen Jesuitenkolleg. Die Räumlichkeiten wurden spätestens im Zweiten Weltkrieg zerstört, lediglich die im Universitätsarchiv bewahrten Akten sind Relikte der akademischen Gerichtsbarkeit in Münster haben überdauert.
Universitäten hatten eigene Gerichtsbarkeit
Die akademische Gerichtsbarkeit wurde erstmals 1155 von der Universität Bologna eingeführt, um ihre Angehörigen vor der städtischen Rechtsprechung zu schützen, die tendenziell Stadtbürger bevorzugte. Nachfolgend etablierte sie sich auch an den anderen europäischen Universitäten. Auf deutschem Gebiet handelte es sich bei den Universitäten um exempte Rechtsräume in der Stadt, die sich ihre eigenen Statuten geben durften. Durch die unterschiedlichen Universitätsverfassungen hatte jede Universität eine eigene Gerichtsbarkeit, die der Zivilgerichtsbarkeit, an einigen Hochschulen sogar der Strafgerichtsbarkeit, entsprach. Sie erstreckte sich nicht nur auf die Studierenden und Lehrenden, sondern auch auf deren Angehörigen und sogar auf die Bediensteten und Gewerbetreibenden, die für die Universität arbeiteten.
In Preußen wurde die akademische Gerichtsbarkeit 1810 vereinheitlicht und ihr Geltungsbereich auf Studenten beschränkt. Für die Akademie Münster lassen sich 1833 erstmals „Disziplinar-Gesetze“ nachweisen, in denen genauer definiert wurde, welche Vergehen im Rahmen der akademischen Gerichtsbarkeit geahndet werden sollten: Beleidigungen anderer Studierender, Auseinandersetzungen oder Duelle zwischen Studenten, die weder Verstümmelungen, schwere Verletzungen noch den Tod zur Folge hatten, sowie Vergehen, die mit einer Gefängnisstrafe von höchstens vier Wochen bestraft wurden. Für alle anderen Delikte waren staatliche Gerichte zuständig. Die Fälle, die zur akademischen Gerichtsbarkeit gehörten, verhandelte der Universitätsrichter, als Strafen drohten beispielsweise der Verweis von der Hochschule, teils einhergehend mit dem Verbot, je wieder an einer anderen Hochschule zu studieren, oder eine mal mehr mal weniger lange Karzerhaft.
Zur Strafe in den Karzer
Der Karzer der Akademie Münster wurde um 1834 eingerichtet. Der Raum war mit einem Bett, einem Haken zum Aufhängen von Kleidung und einem Trinkbecher ausgestattet. Für die Betreuung der Inkarzerierten war der Pedell, also der Gerichtsdiener der Universität, zuständig: Läuteten die Inhaftierten etwa an einer Schelle, führte der Pedell sie zu einer behelfsmäßig eingerichteten Toilette, sorgte für Verpflegung und kümmerte sich darum, dass sie Lehrveranstaltungen besuchen konnten. Vermutlich verewigten sich die Studenten auch in Münster an den Wänden des Karzers oder ritzten ihre Namen in den Türrahmen, in noch erhaltenen Karzern, etwa in Göttingen, kann man dies noch immer besichtigen. Letztmalig lässt sich der Münsterische Karzer 1910 in den Akten der Universität nachweisen, es ist aber möglich, dass er noch länger bestand.
Den Dienstinstruktionen des Pedells ist außerdem zu entnehmen, dass er vor allem an den Wochenenden in den Kneipen nach Studierenden Ausschau halten sollte und trinkende, spielende oder sich mit „niedrigsten Volksklassen“ abgebende Personen dem Rektor und dem akademischen Richter zu melden hatte. Auch „[b]ei dringendem Verdacht, daß in den Privatwohnungen der Studirenden Excesse vorfallen“ hatte der Pedell sich dorthin zu begeben und diese zu unterbinden. Die Vergehen der Studierenden wurden teilweise in der Wohnung des Universitätsrichters verhandelt. Hunderte Protokolle und Urteile dieser Verhandlungen werden im Universitätsarchiv aufbewahrt. Ein sehr großer Teil davon betrifft finanzielle Angelegenheiten, aber auch Vergehen wie Ruhestörungen, grober Unfug, tätliche Auseinandersetzungen, Konflikte zwischen Studentenverbindungen oder Duelle waren Fälle für das akademische Gericht.
Zu Beginn der 1920er Jahre führte das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung neue disziplinarische Regelungen ein, die nun ausschließlich der Aufrechterhaltung der universitären Ordnung dienten und unabhängig waren von strafrechtlicher Verfolgung. Auch wurde der Universitätsrichter seit 1923 in den Personal- und Vorlesungsverzeichnissen als „Akademischer Rat“ geführt.
Kathrin Schulte
Zum Weiterlesen
Lukas Ruprecht Herbert: Die akademische Gerichtsbarkeit der Universität Heidelberg. Rechtsprechung, Statuten und Gerichtsorganisation von der Gründung der Universität 1386 bis zum Ende der eigenständigen Gerichtsbarkeit 1867, Heidelberg 2018.
Quellen
Universitätsarchiv Münster, Bestand 3, Nr. 1412 (Einrichtung eines akadem. Carcers); Nr. 1331 (Dienst Instruction für Pedellen der Königl. Academie). Die einzelnen Fälle sind Teil des Bestands 3, Akten des akademischen Gerichts.