Interdisziplinäre Verständigung und Vielfalt der Perspektiven
Bericht über den ersten internen Workshop des Käte Hamburger Kollegs im Landhaus Rothenberge am 2. und 3. Juni 2022
von Lennart Pieper
Meinen Juristen und Historikerinnen eigentlich das Gleiche, wenn sie von Rechtsvielfalt sprechen? Lässt sich das Konzept der Quelle umstandslos auf andere Wissenschaften wie etwa die Ethnologie übertragen? Und was ist eigentlich eine Norm? Die Verständigung über disziplinäre Grenzen hinweg war eines der wiederkehrenden Themen des ersten internen Workshops Anfang Juni, an dem die Fellows, das Direktorium und die wissenschaftlichen Mitarbeitenden des Käte Hamburger Kollegs teilnahmen. Auf dem Programm stand ferner die Konzeption zweier größerer Publikationsprojekte.
Das nahe Wettringen gelegene Landhaus Rothenberge der WWU Münster bot dazu für zwei Tage einen Ort, wie man ihn sich nicht schöner wünschen könnte. Von einem niederländischen Bankiersehepaar in den 1920er Jahren als Villa im Stil des französischen Rokoko errichtet, wird das Gebäude seit 1962 von der Universität als Tagungshaus genutzt. Bereits der Begrüßungskaffee kurz nach der Ankunft konnte dank des sonnigen Wetters auf der Terrasse eingenommen werden und ging nahtlos in die erste Freiluft-Session über. Der von hier oben sich bietende Blick in die Westmünsterländer Weite half bei der Gedankenfindung und passte gut zum Ausblickscharakter der Diskussionen.
Auf dem Programm stand zunächst die Konzeption eines Quellenreaders. Als Handreichung für Forschung und Lehre soll dieser für das Thema von Einheit und Vielfalt im Recht einschlägige Quellentexte versammeln und mit einer kurzen Einordnung und Interpretation versehen. Da bereits erste Entwürfe für Beiträge vorlagen, konnte die Diskussion auf konkrete Textvorschläge aufbauen. Eine der wichtigsten Herausforderungen, so wurde schnell klar, besteht in der zielgruppengerechten Gestaltung des Readers. Eng damit verbunden ist das Problem des Umgangs mit der Vielschichtigkeit der Thematik, die in einem Quellenreader keinesfalls erschöpfend behandelt werde könne. Statt Epochen und Regionen abzuarbeiten, sei es womöglich sinnvoller, konkrete Problemstellungen und Fragen in den Mittelpunkt zu rücken, die fächer- und zeitübergreifend immer wieder auftauchen und anhand von Quellenbeispielen exemplarisch diskutiert werden könnten. Durch eine solche Herangehensweise kämen zugleich auch die Vorteile der interdisziplinaren Ausrichtung des Kollegs zum Tragen.
Eine weitere Stärke des Readers sei in seiner Orientierungsleistung zu sehen, indem er gegenwärtige Phänomene in ihre historischen Zusammenhänge einordne, die mitunter bis in die Antike zurückreichten. Durch die Kontextualisierung werde deutlich, dass viele vermeintlich aktuelle Entwicklungen wesentlich älter oder zumindest in ähnlicher Form bereits in früheren Gesellschaften diskutiert worden seien, was zu einem informierteren Umgang mit Rechtsvielfalt in der Gegenwart führen könne.
Auch die Frage der Publikationssprache war Gegenstand der Diskussion. Nach dem Abwägen verschiedener Optionen wurde schnell klar, dass eine mehrsprachige Publikation angestrebt werden soll. Zudem sollten alle Quellen auch in Originalsprache vorliegen, damit die Nähe zur historischen Überlieferung gewahrt werde. Zudem bildete sich ein Konsens dahingehend, den Reader als Open Access-Publikation zu veröffentlichen, um die Vorteile der größeren Verfügbarkeit und Sichtbarkeit auszuschöpfen.
Am folgenden Tag stand das Projekt eines gemeinsamen Glossars auf dem Programm. Dieses wird Schlüsselbegriffe und einschlägige Konzepte aus den Forschungsfeldern des Kollegs versammeln und interessierten Leserinnen und Lesern einen schnellen Einstieg ins Thema Rechtsvielfalt und Rechtseinheit ermöglichen. Ebenso können künftige Fellows auf dieses Hilfsmittel zurückgreifen, um sich zügig mit den bisherigen Diskussionen innerhalb des Kollegs vertraut zu machen.
Erste bereits vorliegende Beiträge erleichterten auch hier die Erörterungen über den Zuschnitt der Texte und wurden in fokussierten Speed Discussions kritisch gewürdigt. Zur Strukturierung des Glossars wurde eine Unterscheidung in konzeptionelle Grundbegriffe (z.B. „Rechtsvielfalt“) und Phänomene (z.B. „Pardon“) vorgeschlagen, die es weiter zu diskutieren gilt. Konsens herrschte darüber, dass der Zusammenhang aller Lemmata mit der Problematik von Einheit und Vielfalt im Recht immer explizit gemacht werden müsse. So könne beispielweise ein Begriff wie „Gnade“ nicht in all seinen Facetten, die nicht zuletzt aufs Feld der Theologie führten, sondern lediglich als Ausnahme von der regelhaften Anwendung geltenden Rechts behandelt werden. Gleichwohl müsse der Anspruch sein, in aller gebotenen Kürze möglichst umfassende Erklärungen zu liefern. Ausführlich debattiert wurde zudem über die Frage, ob bestimmte Artikel mehrfach vergeben werden sollten, wenn zum entsprechenden Thema unterschiedliche Forschungsmeinungen existieren. Durch den Workshop nahmen beide Publikationsprojekte deutlich konkretere Formen an. Die konzeptionellen Diskussionen werden nun innerhalb des Herausgeberteams fortgeführt werden.
Als Ort, der ganz unterschiedliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vereint, strebt das Kolleg keine Einheit an, sondern lebt gerade von der Vielfalt seiner Fellows und deren disziplinärer Perspektiven auf das gemeinsame Forschungsthema. Umso zentraler erscheint es, durch Workshops wie diesen wichtige Grundlagen für das gegenseitige Verständnis zu legen. Dies war wiederum nur möglich dank der Bereitschaft auf allen Seiten, sich auf neue, vielleicht zunächst ungewohnte Sichtweisen einzulassen und so zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.
Neben der gemeinsamen Projektarbeit bot der Aufenthalt in Rothenberge, etwa während des frühsommerlichen Abendspaziergangs oder beim gemütlichen Beisammensein nach dem Essen, auch ausreichend Gelegenheit, persönlich miteinander ins Gespräch zu kommen und sich besser kennenzulernen. Auf diese Weise hatte die Veranstaltung neben den Erträgen des inhaltlichen Austauschs auch einen positiven Einfluss auf das Zusammenwachsen des Kollegs. Am Ende wurde daher von allen Teilnehmenden der Wunsch nach einer baldigen Wiederholung geäußert.