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Interview

„Ein bemerkenswerter Ausnahmefall“

Informelle Gerichte als Form von Rechtsvielfalt im Mandatsgebiet Palästina

Prof. Dr. Dr. Eyal Katvan
© privat

Professor Dr. Dr. Eyal Katvan ist zurzeit Fellow am EViR Kolleg und untersucht Familienstreitigkeiten vor informellen Gerichten im Mandatsgebiet Palästina (1920-1948). Das Gebiet war in dieser Zeit von großer gesellschaftlicher Vielfalt ebenso geprägt wie von einer wechselhaften politischen Situation und stellt daher ein ertragreiches Forschungsfeld für die Untersuchung von Rechtsvielfalt dar. In diesem Interview gibt Katvan Einblicke in sein Forschungsprojekt und beschreibt, wie er sein digitales Fellowship erlebt.

Herr Professor Katvan, Sie sind Experte für die von Rechtspluralismus geprägte israelische Rechtslandschaft. Woher kommt diese bemerkenswerte Vielfalt?

Israel (und das vorstaatliche Israel) ist einzigartig in Bezug auf Vielfalt, und dies hat in der Tat zu Rechtspluralismus geführt oder diesen begründet. Bedenken Sie, dass es innerhalb von 40 Jahren, nämlich von Ende 1917 bis 1948, zwei Regimewechsel und damit drei verschiedene Machthaber gegeben hat: die Osmanen, die Briten und den Staat Israel. Jeder bringt ein neues Rechtssystem mit und hervor, behält aber auch einen Großteil des alten bei. Ende des 19. Jahrhunderts war die Bevölkerung des Landes ebenfalls vielfältig. Damals brachten jüdische Einwanderungswellen Menschen aus der ganzen Welt mit, die zu dieser vielfältigen Gesellschaft beitrugen. Diese Vielfalt steht auch im Zusammenhang mit der Rechtsvielfalt, da die verschiedenen Machthaber (in bestimmten Fällen) auch den Charakter der multinationalen, religiös-ethnischen Gesellschaft des Landes berücksichtigten – man gestattete zum Beispiel verschiedenen Religionsgemeinschaften, bestimmte Dinge vor religiösen Gerichten zu erörtern, oder es durften neben den staatlichen Gerichten auch informelle Gerichte bestehen.   

Im ersten Jahr unseres Kollegs untersuchen wir die Dynamik zwischen Regel und Ausnahme, die mit dem Verhältnis zwischen Rechtseinheit und Rechtsvielfalt zu korrelieren scheint. Der Titel Ihres Forschungsprojekts über familienrechtliche Prozesse im Mandatsgebiet Palästina lautet „An exceptional exception“. Können Sie das System der verschiedenen formellen und informellen Familiengerichte beschreiben und erklären, inwiefern sie eine Ausnahme von der Regel waren?

Die Rabbinatsgerichte in der Mandatszeit waren ausschließlich für Heirats- und Scheidungsangelegenheiten, Unterhaltszahlungen und die Bestätigung von Testamenten zuständig. Dies war die Regel, aber man kann dies auch als eine Ausnahme von den Regeln der britischen Zivilgerichte betrachten. Anders gesagt: Dass die Briten im Mandatsgebiet Palästina und seiner Zivilgerichte die Zuständigkeit religiöser Gerichte für Personenstandsangelegenheiten anerkannten, ist bereits ein Ausdruck von Rechtsvielfalt und eine Ausnahme.

Das Bild ist jedoch komplexer, da das Recht im Mandatsgebiet Palästina eine einvernehmliche Gerichtsbarkeit in anderen, untergeordneten Fragen des Personenstands ermöglichte. Nicht nur religiöse Gerichte entschieden in diesen Fällen (im Falle der jüdischen Bevölkerung: die Rabbinatsgerichte), sondern auch gemeindebasierte informelle, schiedsrichterliche Gerichte – die die Ausnahme von der Regel darstellten.

Zwei dieser informellen Gemeinschaftsgerichte wurden vom jüdischen Jischuv in Palästina eingerichtet: das hebräische Friedensgericht (Mishpat Hashalom Ha‘Ivri), das sich in erster Linie mit Streitigkeiten zwischen Juden aus allen (zivilen) Teilen der jüdischen Bevölkerung befasste, und das Gericht der Arbeitergewerkschaft (Mishpat Chaverim shel HaHistadrut, hebräisches Genossengericht), das Streitigkeiten zwischen ihren Mitgliedern schlichtete. Etwa 50 Fälle betrafen Familienangelegenheiten. Auch hier handelt es sich um eine Ausnahme, sogar innerhalb der  informellen Gerichte selbst.

Drei Richter am British District Court in Jaffa während der Zeit des Völkerbundsmandats
Drei Richter am British District Court in Jaffa während der Zeit des Völkerbundsmandats
© Palestinian Ministry of Information / Israel State Archive

„Wer die (einvernehmliche) Gerichtsbarkeit der informellen Gerichte ablehnte, wurde von der Sozialgemeinschaft sanktioniert“

Wenn wir uns die Ebene der Prozessierenden ansehen: Waren die vielen konkurrierenden Gerichte, die im Prinzip alle zuständig waren, für sie ein Vorteil oder ein Nachteil?

Meines Erachtens hat der Einzelne einen Vorteil, wenn er die Art des Gerichts wählen kann, vor dem sein Fall verhandelt werden soll. Man sollte jedoch bedenken, dass dies nicht unbedingt eine wirkliche Wahl ist. Erstens gibt es bei jedem Rechtsstreit mindestens zwei Parteien, sodass die Entscheidung der einen Partei nicht zwangsläufig auch die andere Partei bindet. Zweitens wurden – zumindest bei den beiden informellen Gerichten – diejenigen, die deren (einvernehmliche) Gerichtsbarkeit ablehnten, von der Sozialgemeinschaft sanktioniert. Dies schränkte die Entscheidungsfreiheit der Prozessierenden faktisch ein. Wenn sich jedoch beide Parteien auf die konsensuale Gerichtsbarkeit einigten, entsprach das Gericht vermutlich eher ihren Bedürfnissen und Präferenzen.

Hat es Versuche gegeben, die Ausnahmen abzuschaffen und das Rechtssystem zu vereinheitlichen?

Während der Mandatszeit nahm der Stellenwert der informellen Gerichte ab. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Unter anderem gestalteten die Juristen diesen Apparat immer formaler und machten ihn dadurch weniger attraktiv, sodass schließlich auch die Anzahl der Gerichte und Institutionen, an die man sich während der Mandatszeit wenden konnte, zurückging. Die religiösen Gerichte behielten jedoch ihre Autorität: Die Rabbinatsgerichte befassten sich weiterhin mit Personenstandsfragen, und 1953 wurde ihre ausschließliche Zuständigkeit für Fragen der Eheschließung und Scheidung bei Juden vom israelischen Gesetzgeber anerkannt. Um es kurz zu machen: Der Oberste Gerichtshof Israels stellte in den 1990er Jahren eine „Einheitsthese“ auf, der zufolge sich die Rabbinatsgerichte mit ihrer Rechtsprechung auf die zivilrechtlichen Grundsätze der Menschenrechte und der Geschlechtergleichheit beziehen müssen.

Als einer der ersten Fellows haben Sie gerade Ihre Arbeit im Zentrum aufgenommen. Was erhoffen Sie sich für die Zeit Ihres Fellowships?

Auch ein digitales Fellowship ist eine Ausnahme... Als Akademiker sind wir es gewohnt, Gedanken und Ideen persönlich auszutauschen und auf Konferenzen oder im Rahmen von Fellowships an unterschiedlichen Universitäten und Instituten unsere Studien zu diskutieren. Corona hat das verändert. Die Welt ist zum Zoom-Meeting geworden. Als ich mich für das digitale Fellowship bewarb, war ich mir nicht sicher, ob eine akademische Gemeinschaft und eine vergleichbare Atmosphäre online geschaffen werden können. Aber es hat funktioniert! Das Fellowship hat gerade erst begonnen, doch kann ich schon jetzt sagen: Die Planung und das Programm des digitalen Stipendiums sind bemerkenswert. Es ermöglichte erkenntnisreichen Austausch mit anderen Kollegen, die sich alle mit Rechtsvielfalt beschäftigen. Obwohl sich die anderen Fellows mit jeweils unterschiedlichen Zeiträumen, Perspektiven der Rechtsvielfalt und Methodologien befassen, hatten die Mitglieder dieser Gruppe viele gemeinsame Nenner. Das machte ein fruchtbares Arbeiten und eine Basis für Kooperationen möglich. Vorträge für die Reading Sessions vorbereiten, die Arbeiten gegenseitig kommentieren, die Treffen zur Tea Time – all das ermöglicht sukzessive und systematische Fortschritte bei meinem eigenen Projekt. Meine bisherige Stipendiumszeit übertrifft also bereits alle Erwartungen. Wenn ich den Titel meines Projekts verwenden darf – das Fellowship ist ein bemerkenswerter Ausnahmefall!

Die Fragen stellte Lennart Pieper.

Über den Autor

Prof. Dr. Dr. Eyal Katvan ist Rechtsanwalt, Bioethiker sowie Rechts- und Medizinhistoriker. Zurzeit ist er Fellow am EViR Kolleg.