Pharmazie und Integrative Medizin – interfakultative Lehre

Pharmazie und Medizin, Forschung und Klinik, Arzt und Apotheker – die gemeinsame Schnittmenge ist immer der Patient. Viel zu häufig wird dies in unserem Gesundheits- und Ausbildungssystem übersehen, und jeder Kliniker, Forscher, Pharmazeut, Studierender beschäftigt sich aus seiner professionellen Umgebung heraus, mit seinem speziellen Blickwinkel und mit seiner Expertise mit den jeweiligen medizinischen und pharmazeutischen Fragestellungen. Hier kann die Interdisziplinarität häufig und zum wechselseitigen Gewinn verbessert werden. Die wissenschaftliche Fachgesellschaft „Gesellschaft für Phytotherapie“ e.V. (GPT) hat sich dies schon seit Jahrzehnten auf die Fahne geschrieben, hier sprechen und arbeiten immer wieder unterschiedliche Fachgruppen miteinander. Die seit Jahren stattfindenden Fortbildungsmodule „Phytotherapie für Ätzte und Apotheker“ sind ein ständig wachsendes Erfolgsmodell, die Phytotherapiekongresse der GPT werden immer internationaler und bieten eine einzigartige Plattform des Austausches zwischen Klinik, Grundlagenforschung und Industrie, die diversen Arbeitsgruppen der GPT in Zusammenarbeit mit der schweizerischen, österreichischen und niederländischen Partnerorganisation bearbeiten spezifische Fragestellungen und die Öffentlichkeitsarbeit bringt das Wissen um die rationale Phytotherapie in die Öffentlichkeit, sei es mit dem bundesweiten Tag der Arzneipflanze, bei diversen Bürgersymposien, über Schriften, TV-Beiträge oder hochkarätige podcasts.

Ein Feld könnte künftig noch intensiver die Zusammenarbeit zwischen Medizin und Pharmazie stärken, nämlich im Bereich der Ausbildung des Pharmazeuten- und Ärztenachwuchses. Nicht jede medizinische Fakultät lehrt Phytotherapie im Rahmen der grundständigen Medizinerausbildung; nicht jedes pharmazeutische Institut vermittelt die spannenden Fakten rund um Naturstoffe und rationale Phytotherapie in der ganzen Breite. Und gemeinsames Lernen im Sinne des forschenden Lernens kann durchaus befruchtend sein.

Das Konzept des Forschenden Lernens wird an der Universität Münster seit Jahren als ein Leitsystem genutzt. Implementierung erfolgte im Studiengang Pharmazie u.a. im sogenannten Projekt PharMScool (https://www.uni-muenster.de/PharmaCampus/studium/pharmschool/index.html) welches Studierende im Hauptstudium Raum und Möglichkeit bietet in eigenen Forschungsprojekten Erfahrung zu sammeln, mit erfahren Wissenschaftler direkt zusammen zu arbeiten, und eigene Erfahrungen in der Wissenschaft zu sammeln, die weniger Lehrbuch-, sondern eher Interessen- und Neugier-gesteuert sind.

Neugierig lernen – manchen fällt das nicht leicht, andere beißen sich regelrecht in die Materie hinein. So wie etwa eine Studierendegruppe von Pharmazeuten der Universität Münster, die als Rahmenthema „Gastrointestinale Erkrankungen und Pharmakotherapie“ angingen. Immer wieder tauchte das Thema „chronisch entzündliche Darmerkrankungen“ auf. Wie ist die Pathogenese, welche modernen Interventionsmöglichkeiten gibt es, wie ist die Prognose, wie ist die Versorgungslage, etc. Je mehr man sich einarbeitet, umso mehr kommen weitere Fragen auf. Dies ist forschendes Lernen. Und dann tauchen im Rahmen des Kurses Pharmazeutische Biologie III (Phytochemische Übungen) Heidelbeeren in der Literatur auf, die angeblich bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt werden. Erfolgreich oder ist das Humbug? Es wird recherchiert und siehe da, es gibt sogar mehrere Arzneibuchmonographien zu Heidelbeerfrüchten. Wie sieht die Qualitätssituation aus? Es gibt Heidelbeersäfte, es gibt Nahrungsergänzungsmittel aber leider keine zugelassenen Arzneimittel. Also wird Analytik per HPLC etabliert, um Präparate aus dem Nahrungsergänzungsmittelmarkt auf Identität und Gehalt zu prüfen. Die Gruppe denkt, das geht rasch - von wegen. Bis so was läuft, ist rasch eine Woche rum – aber die Trennung von 20 Heidelbeer-typischen Anthocyanen ist toll, wenn es klappt. Und es klappt. Pharmakologiepraktikum: ein standardisierter Heidelbeerextrakt wird hinsichtlich möglicher antientzündlicher Effekte auf CaCo-2 Darmzellen untersucht, die mit Lipopolysaccharid vorab geärgert wurden. Tatsächlich, die Jungforscher finden Effekte auf die IL-8 und TNFα Sekretion. Aber hat solch ein in vitro Befund eine Aussage zur Wirksamkeit beim Menschen? Die Recherche bringt die Gruppe auf eine Forschergruppe am Klinikum Bamberg, dort wird in der Gastroenterologie wohl mit Heidelbeeren gearbeitet. Ob man da mal nachfragen kann? Klar, jetzt muss der professorale Mentor (GPT-Mitglied) angreifen, und kontaktiert den Medizinerkollegen (auch GPT-Mitglied). Und siehe da? Ja toll, kommt einfach rüber, dann zeigen wir Euch was wir in Bamberg machen und Ihr zeigt uns, wie Analytik von Heidelbeeren geht.

Die Vorlesungszeit ist gerade vorbei, die letzte Klausur in Münster geschrieben und 7 Studienerde fahren ab nach Bamberg an das Klinikum Bamberg, Klinik für Integrative Medizin und Naturheilkunde, die über Univ. Prof. Dr. med. Jost Langhorst und den Stiftungslehrstuhl für Integrative Medizin mit der Universität Duisberg-Essen verbunden ist.

Die kommenden beiden Tage waren vollgefüllt mit Vorträgen, Diskussionen, Gespräche und Erfahrungen in Theorie und Praxis für alle Beteiligten. Die Integrative Medizin ist eine Verbindung von moderner, konventioneller Medizin (sog. Schulmedizin) mit gesundheitsfördernder Lebensstilmodifikation und wissenschaftlich fundierter Naturheilkunde, sie behandelt den Patienten ganzheitlich. Neben Phytotherapie wird intensiv Reizreaktionstherapie, Ordnungstherapie, aber auch Ernährung- und Bewegungstherapie eingesetzt. Ganz wichtig: nicht nur Symptomkontrolle (salvatorischer, bewahrender Effekt), sondern zusätzlich auch Anregung der Selbstheilungskräfte (Salutogenese). Versorgungs-Schwerpunkte in der Klinik sind Indikationen wie chronisch entzündliche und funktionelle Darmerkrankungen, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreise, Polyarthritis, chronischer Schmerz, metabolisches Syndrom, Asthma, COPD, Koronarinnsuffizienz, PostCovid Syndrom u.a.

Unsere Studierendengruppe betrachtet nun tatsächlich überrascht, wie die Klinik mit einer 25 Bettenstation für Naturheilkunde mit zusätzlicher Tagesklinik für chronisch Erkrankte und onkologischen Patienten sowie das MVZ für die ambulante Versorgung in einen schulmedizinischen Maximalversorger integriert ist. Ganz wichtig: Die Klinik für Integrative Medizin und Naturheilkunde ist „mittendrin“ im Maximalversorger und nicht „außerhalb“. Dies bedeutet natürlich auch eine sehr hohe Akzeptanz einer solchen Klinik durch andere Ärzte und Stationen – in Bamberg ein sich inspirierendes System. Durch die Ausstattung mit einem Universitären Lehrstuhl entsteht ein relevanter Mehrwert für das gesamte Fach: parallel zur erweiterten Patientenversorgung ist eine sehr aktive Forschungsabteilung etabliert, Ziel ist die praktische Umsetzung erzielter Forschungsergebnisse in der Patientenversorgung und deren konsequente Beforschung als Voraussetzung für deren Integration in die jeweiligen Leitlinienempfehlungen. Prof. Langhorst stellte anhand von Patientenfällen vor, wie Betroffene in der Klinik nach einem integrativen Konzept behandelt werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Phytotherapie, die als wichtige Säule der Behandlung eingesetzt wird.

Medizinische Leitlinien sind ein Thema, das jeder Pharmazeut kennt. Auch in der phytotherapeutischen Realität ist die Implementierung pflanzlicher Arzneimittel in die Leitlinien ein überaus wichtiges Thema. Diese Thematik wurde intensiv diskutiert, überwiegend am Beispiel von Reizdarmsyndrom und chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Unsere Studierendengruppe war durchaus erstaunt wieviel Drogen tatsächlich bei diesen Erkrankungen Leitlinien-konform genutzt werden können. Flohsamen, Weihrauch, Myrrhe, Kamille, Curcuma, Cannabis u.v.m. wurden intensiv besprochen.

Keine Therapie ohne sorgfältige Diagnostik. Am Beispiel der konfokalen Laserendomikroskopie wurde demonstriert, wie direkt am Patienten der obere Gastrointestinaltrakt diagnostisch bewertet werden kann, aber im gleichen Vorgang durch Applikation definierter Allergene in Form von Lebensmitteln auf die Darmschleimhaut in situ die potentielle Störung der Darmbarrierefunktion geprüft werden kann. Spannend, auch mal direkt im Untersuchungsraum dabei sein zu dürfen. Aber halt: was ist eigentlich konfokale Laserendomikroskopie? Die Frage konnte nachfolgend beantwortet werden, als die Gruppe die physikalischen Grundlagen der Konfokalmikroskopie diskutierte, um dann zu lernen, dass man ein solches Gerät auch über ein modernes Endoskop nutzen kann.

Dann Heidelbeeren: Im Klinikum Bamberg läuft zurzeit eine lange vorbereitet klinische Studie zu Heidelbeeren bei Colitis. Was alles zu Beantragung einer solchen Studien gehört, was alles organisiert werden muss, wie Abläufe zu planen sind, war überaus spannend. Natürlich weiß jeder Pharmazeut, wie ein Phase 3 Studie abläuft, allerdings nur theoretisch, die vielen kleinen Details und behördlichen Fallstricke konnten unsere Studierenden hier vor Ort diskutieren. Und dann das Prüfpräparat: ja, da waren die Münsteraner in ihrem Element, da sie ja Experten in Heidelbeeranalytik waren und direkt ihre analytischen Methoden dem Ärztekollegium präsentieren konnten. Beide Gruppen lernen voneinander, und alle diskutieren, um hinterher klüger zu sein als vorher.

Nach gastroenterologischen Fragestellungen wurde ein ganz anderer Komplex besprochen – das Post Covid Syndrom: wie sieht das in der klinischen Praxis aus, wie geht der Arzt damit um, was kann der Pharmazeut hier empfehlen? Eine überaus komplexe Fragestellung, die auch im Bamberger Klinikum viel klinische Kapazität bindet. Diskutiert wird das Thema auch an der Universitätsmedizin Rostock. Auch dort existierte bis Ende 2023 über 20 Jahre eine Stiftungsprofessur für Naturheilkunde am Zentrum für Innere Medizin. Was also ist näherliegend, als die langjährige Leiterin dieser Einheit, Professorin Dr. med. Karin Kraft (GPT-Präsidentin) digital zuzuschalten. Sie berichtete von ihrer Arbeit in der Ambulanz der Universitätsmedizin Rostock, wo sie als Internistin Naturheilverfahren erfolgreich als Ergänzung zur konventionellen Medizin einsetzt und erforscht. Ihre praxisnahen Einblicke zeigten eindrucksvoll, wie Phytotherapie einen wertvollen Beitrag zur Patientenversorgung im klinischen Kontext leisten kann. In größerer Runde wurden diskutiert, insbesondere therapeutische Möglichkeiten beim Post Covid Syndrom besprochen. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch, dass die Versorgungsstrukturen im Bereich Naturheilkunde durchaus lokal unterschiedlich sein können. Währen Bamberg auch eine stationäre und teilstationäre Versorgung bietet, kann Rostock lediglich mit ambulanter Versorgung punkten.

Es waren viele Fragen die besprochen wurde, es gab viele Interaktionen zwischen Studierenden, Ärzten und Forscher. Aber alle waren sich einig: es hat Spaß gemacht, es hat alle inspiriert, es hat alle weitergebracht, und alle waren der Meinung: nächstes Jahr treffen wir uns wieder, und die Kliniker und Forscher aus Bamberg sind herzlich an die Universität Münster in das Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie eingeladen, um interfakultativ über das Thema „Qualität pflanzlicher Arzneimittel in der Praxis“ zu sprechen. Analytics meets clinic, das Motto für 2026.

Und dann noch ganz wichtig: Nicht nur im Klinikum auf Station wurde diskutiert, nein auch beim fränkischen Abendessen und süffigem Bamberger Bier ging es weiter. Und Bamberg ist auch touristisch ein absolutes Highlight.

Der Besuch am Klinikum Bamberg bot den Pharmaziestudierenden aus Münster eine einzigartige Gelegenheit, die Schnittstelle zwischen Pharmazie, Medizin und Naturheilkunde hautnah zu erleben. Die Kombination aus praktischen Einblicken, wissenschaftlichem Austausch und hochmoderner Diagnostik machte die Exkursion zu einem wertvollen Erlebnis. Ein herzlicher Dank gilt Prof. Langhorst und seinem Team für die inspirierenden Einblicke sowie Prof. Kraft für ihren spannenden Vortrag.  

Mit neuen Impulsen und wertvollen Erkenntnissen im Gepäck kehrten die Studierenden nach Münster zurück – bestärkt in der Überzeugung, dass die Zukunft der Medizin in der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Pharmazie und Medizin liegt.