Wl 1107 Rademacher

Dr. Torsten Rademacher

Hilft uns Kant, die passenden Antworten auf den Globalisierungsstress zu finden? Hanna Dieckmann sprach mit Dr. Torsten Rademacher, Mitarbeiter von Christoph Strässer (Bundestag/SPD), über die große Aktualität von Kants Thesen. Die Dissertation des WWU-Absolventen zu diesem Thema zeichnete die Körber-Stiftung mit dem Studienpreis aus.

In Zeiten der Europakrise, der arabischen Revolution und einer Vielzahl an gesellschaftlichen Problemen wird überall nach Lösungen gesucht. Und jetzt behaupten Sie, Kant habe die Antwort auf die Globalisierung bereits vor über 200 Jahren gegeben.

Nein, so ist das nicht gemeint. Aber ich meine erkannt zu haben, dass Kant damals Lösungsansätze für Probleme geliefert hat, mit denen wir heute zu kämpfen haben. Da bin ich zwar nicht der Einzige, aber die philosophische Grundidee ist nur oberflächlich behandelt worden. Ich habe sie in meiner Arbeit ins rechte Licht und in den aktuellen Kontext gerückt.

Was macht Kants Ansatz aus?

Er weist darauf hin, dass die Globalisierung auf zwei Grundbedingungen des menschlichen Lebens fußt: Vernunft und Abhängigkeit. Letztere betrifft durch die stetig intensiver werdende globale Vernetzung alle gesellschaftlichen Lebensbereiche. Die Vernunft ermöglicht uns die Erkenntnis der gegenseitigen Abhängigkeit  und gibt uns die Möglichkeit, diese konstruktiv und zum Vorteil aller zu steuern.

Können Sie die angesprochene Abhängigkeit an einem Beispiel verdeutlichen?

Alles, was ich tue, hat Konsequenzen für meine Mitmenschen: Kaufe ich zum Beispiel Kaffee aus Ecuador oder Chile, der nicht fair gehandelt ist, unterstütze ich, dass die Plantagearbeiter dort unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und arbeiten. Das ist nur eines von unzähligen Beispielen. Jede Kaufentscheidung fällt im Prinzip unter dieses Muster.

Was ist Kants Strategie, um zur „perfekten Welt“ zu gelangen, wie Sie in Ihrer Arbeit schreiben?

Ein prozessual ausgelegtes Weltbürgerrecht. Es regelt die grenzüberschreitenden Verhältnisse zwischen Regierungen und den Menschen fremder Staaten. Zudem das Verhältnis der Menschen verschiedener Staaten untereinander mit dem Ziel, diese friedlich zu gestalten. Das Weltbürgerrecht steht im Zentrum von Kants These, denn viele Probleme entstehen oder können nicht gelöst werden, weil sich der Prozess nur zwischen den Regierungen abspielt.

Wie soll das konkret funktionieren?

Betrachten wir die arabische Revolution der vergangenen Monate: 90 Prozent der deutschen Kooperationen mit Ägypten laufen auf Regierungsebene, aber nicht mit der Zivilgesellschaft ab. Dabei ist gerade diese Zusammenarbeit existenziell wichtig, und zwar im besten Fall schon dann, wenn es noch nicht zu sichtbaren Problemen gekommen ist. Man muss frühzeitig demokratische Strömungen in der Bevölkerung aufspüren und unterstützen.

Überzeugung statt Gewalt und Zwang?

Solche Prozesse funktionieren nachhaltiger, wenn sie freiwillig vonstattengehen. Die westlichen Demokratien haben sich nicht immer vorbildlich verhalten. Unterstützt die westliche Welt die Demokratisierung, dann meist durch kontraproduktive Gewalt oder aufgrund kurzfristiger Wirtschaftsinteressen, die niemanden von der Sinnhaftigkeit eines demokratischen Systems überzeugt. Deshalb lautet Kants Überzeugung und meine ebenfalls: Wir müssen demokratieorientierte Zivilgesellschaften innerhalb von Diktaturen unterstützen, das haben wir zum Beispiel in Ägypten, Libyen und Jemen versäumt.

Sie kritisieren, dass die Politik nicht nachhaltig genug an solchen Prozessen arbeitet?

In der Politik zählen in besonderem Maße Wirtschaftsinteressen. Das Verhalten vieler Politiker und die politischen Strukturen fördern oftmals kurzfristiges und profitorientiertes Denken und Handeln, weil es vor allem um Machterhalt geht. Kant aber sagt, dass kurzfristige, wirtschaftliche Interessen eben nicht die Priorität sein dürfen. Interessanterweise können wir gerade dann wirtschaftlich profitieren, wenn es weltweit mehr Rechtstaatlichkeit gibt. Denn langfristig gibt es so einen viel größeren Absatzmarkt. Vernunftgeleitetes, nachhaltiges Denken und Handeln bringt uns also auch wirtschaftliche Vorteile.