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Jury auf Kirchenbänken: Ein Schauplatz der Aufnahmeprüfungen der Musikhochschule ist der münstersche St.-Paulus-Dom. Die imposante Kulisse kann das Lampenfieber während des Vorspielens auf der 1956 erbauten Orgel in ungeahnte Höhen treiben. 

Fotos: Peter Grewer

Es ist fünf Uhr am Morgen, als Vera Heppt aus dem Schlaf hochschreckt. Bis zu ihrer Eignungsprüfung an der Musikhochschule Münster hat die Pianistin noch über sechs Stunden Zeit, doch die Aufregung unterbindet jeden Versuch, wieder einzuschlafen. Ihren unruhigen Magen besänftigt die Abiturientin mit einer Tasse grünem Tee. Die Unruhe im Kopf dagegen ist kaum zu bändigen, schließlich ist die Bambergerin eine von 139 Pianisten, die sich um einen der 17 Studienplätze im Fach Klavier an der Musikhochschule bewerben. Die Konkurrenz ist riesig, der Druck enorm hoch – wer seinen Traum vom Musikstudium wahr machen will, darf sich kaum einen Fehler erlauben.

Um zehn Uhr wird es ernst. Im Konzertsaal nimmt die vierköpfige Prüfungskommission ihre Plätze auf dem sonst leeren Parkett ein und bittet die erste Kandidatin auf die Bühne an den Flügel. Die Tür schließt sich, im Foyer davor wartet Vera Heppt mit all den anderen Kandidaten, die versuchen, ihre Panik mithilfe nervöser Fingerübungen in Konzentration umzuwandeln. Nach 70 schier endlosen Minuten Wartezeit ist es soweit. Vera Heppt stellt der Jury, wie gefordert, ihre drei repräsentativen Werke aus Barock, Klassik und Romantik vor. "Fangen Sie an, womit Sie wollen", ruft Peter von Wienhardt, Professor für Klavier an der Musikhochschule, ihr zu.

"Ist es gut oder schlecht, dass mein zweites Stück unterbrochen wurde?"


Ihre schlanken Finger gleiten behände über die Tasten, ihr Blick haftet fokussiert an der Klaviatur. "Danke, das genügt uns", unterbricht die Prüfungsriege ihr Vorspiel mitten im zweiten Stück. Für die Prüfer ist das Routine. Die Klavierprüfungen dauern insgesamt 30 Stunden, und ihre geschulten Ohren hören schnell, ob jemand Talent hat oder nicht. Für Vera Heppt ist die emotionslose Ansage brutal, hängt doch an diesen zehn Minuten ihre Zukunft. "Ist es gut oder schlecht, dass mein zweites Stück abgebrochen wurde?" So paart sich die erste Erleichterung, fertig zu sein, mit einem gewaltigen Schuss Ungewissheit.

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Fokussierter Blick: Vera Heppt während ihrer Eignungsprüfung

Die Kommission zieht sich zur Beratung zurück. Die vier Klavier-Professoren stecken die Köpfe zusammen und diskutieren. Wer war virtuos, wer klimpert bloß? "Die Kriterien lassen sich nicht einfach katalogisieren und dann musterhaft auf alle Musiker anwenden", erklärt Klavierprofessor Michael Keller. Der Gesamteindruck zählt. "Der Zugang zum Instrument, der individuelle Wille zur Gestaltung, die Entwicklungsfähigkeit, aber auch die Haltung und ob der Prüfling vorher Kontakt zu einem Professor aufgenommen hat, sind die Eckpfeiler, auf die wir achten", unterstreicht Manja Lippert, WWU-Klavierprofessorin.

Als das Adrenalin gewichen ist und der Puls wieder normales Tempo erreicht hat, erzählt die 18-jährige Vera Heppt ihre Geschichte. In der ersten Klasse fing sie mit dem Klavierspiel an, ging zur musikalischen Früherziehung, bekam sechs Jahre lang in der Musikschule Bamberg Unterricht. Ein zweiter Platz bei "Jugend musiziert" zeigt ihr, dass Disziplin und Ehrgeiz zu Fortschritten führen. "Das Klavierspiel zeigt mir meine Grenzen auf, was mir der größte Anreiz ist", sagt die 1,0-Abiturientin. Doch noch ist es nicht soweit. In 48 Stunden weiß sie, ob sie den ersten Aufnahmetest bestanden hat und somit für die Prüfung in ihrem Zweitfach Querflöte und zu den Theorietests zugelassen ist. Während Vera Heppt zuhause in Bamberg auf ihr Ergebnis wartet, ist die zweiwöchige Prüfungsphase an der Musikhochschule in vollem Gange. In einem der Übungsräume spielen sich zwei Prüflinge auf ihren Geigen ein, Gesang tönt von irgendwoher, eine junge Frau schleppt ihre Harfe zur Tür herein.

Die Studiendekanin Renate Vornhusen steht vor einer immensen logistischen und bürokratischen Aufgabe, denn in diesem Jahr streitet eine nie dagewesene Anzahl von 564 Bewerbern um die 81 Studienplätze am Institut. Zum Vergleich: Im Wintersemester 2008/2009 waren es nur 200 Musiker, die in Münster ausgebildet werden wollten. Der Stress tut der Laune von Renate Vornhusen jedoch keinen Abbruch. Die Harfen- und Orgelklassen stehen nach jahrelanger Abstinenz vor der Renaissance an der Hochschule. "Besonders die Orgel muss in der Stadt der vielen Kirchen doch wiederbelebt werden", sagt auch Domorganist und künftiger Klassenleiter Thomas Schmitz. Seine potenziellen Schützlinge durften in ganz besonderer Prüfungsumgebung die Kirchenschiffe des St.-Paulus-Doms mit den imposanten Pfeifenklängen fluten.

Die Ausweitungen der Instrumentenpalette sind nicht die einzigen Register, die Renate Vornhusen für die Zukunft der Hochschule zieht. Seit die ehemalige "Abteilung Münster der Hochschule für Musik Detmold" im April 2004 in einem eigenen Fachbereich der Universität aufgegangen ist und als erste deutsche Musikhochschule die Bachelor-Studiengänge eingeführt hat, hat sich viel verändert. "Früher gab es Gehörbildung, Tonsatz, Musikgeschichte und Analyse. Das war’s", erinnert sich Renate Vornhusen. Heute liegt für die 250 Studierenden der Hochschule ein wesentlicher Schwerpunkt auf dem vermittelnden Aspekt zur Ausbildung kompetenter Musiklehrer. "Man muss bei Einbezug des spezifizierten Berufsspektrums heute breiter aufgestellt sein", erklärt die Studiendekanin. Neben den neuen Harfen- und Orgelklassen werden zum Wintersemester erstmals die Studiengänge "elementares Musik- und Tanztheater" sowie Popularmusik eingeführt. "Wer aber klassisch ins Orchester will, wird selbstverständlich weiter dahingehend gefördert", sagt Renate Vornhusen.

"Eine Ausbildung in Deutschland ist für Koreaner gleichbedeutend mit einer Anstellung in ihrer Heimat."

Vom Orchester und den großen Konzertsälen dieser Welt träumen sehr viele Studenten aus Asien. Fast 60 Prozent der Studierenden an der Musikhochschule kommen aus Fernost. Die meisten sind Südkoreaner, die eine Solokarriere anstreben. "Eine Ausbildung in Deutschland ist für Koreaner gleichbedeutend mit einer Anstellung in ihrer Heimat. Das Studium kostet obendrein weitaus weniger Gebühren", erläutert Professor Michael Keller, der in diesem Jahr unter den 139 Klavierprüflingen rekordverdächtige 91 Koreaner anhört, den großen Andrang aus Asien.

Rekordverdächtig ist auch die Freude bei Vera Heppt, als sie erfährt, dass sie ihre Klavierprüfung bestanden hat. Viel Zeit zu feiern bleibt der 18-Jährigen allerdings nicht, denn die Zweitfachprüfung steht kurz bevor. Ihr Ansatz auf der Querflöte, die sie lange nicht gespielt hat, ist noch nicht ganz sauber und die Theorietests waren reichlich anspruchsvoll, doch zum Bestehen sollte es gereicht haben, hofft sie. Allerdings bekommt nur die Hälfte der 36 erfolgreichen Bewerber am Piano einen Studienplatz. Bis zur endgültigen Gewissheit stehen Vera Heppt weitere unruhige Nächte bevor ...

Pjer Biederstädt