Über den Tellerrand hinaus schauen

Welche Verantwortung tragen Wissenschaftler? Haben sie überhaupt die Freiheit, um Verantwortung zu übernehmen? Mit diesen und weiteren Fragen setzen sich sechs Forscher des Jungen Kollegs auseinander.
Foto: Peter Grewer
Welche Verantwortung tragen Wissenschaftler gegenüber der Gesellschaft? Ist die Debatte darüber vielleicht nur eine Nebelkerze, die die Abhängigkeiten der Forscher von politischen und strukturellen Voraussetzungen verschleiert? Eine rege Diskussion darüber ist an einem Donnerstagabend Ende März in einem Seminarraum in der Schlaunstraße im Gange. Am Tisch sitzen sechs junge Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler. Alle sind Mitglied im Jungen Kolleg der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Heute haben sie sich zum ersten Treffen der Arbeitsgruppe "Verantwortung und Wissenschaft" zusammengefunden – einer von mehreren AGs, in der sich die insgesamt 30 Stipendiaten des Jungen Kollegs freiwillig engagieren.
Vier Nachwuchswissenschaftler der Universität Münster wurden im Januar 2011 neu in das Junge Kolleg aufgenommen. Drei von ihnen nehmen an der Arbeitsgruppe "Verantwortung und Wissenschaft" teil. Dazu gehört Dr. Regina Grundmann, Juniorprofessorin für Judaistik am Centrum für Religiöse Studien der WWU, Projektleiterin im Exzellenzcluster "Religion und Politik" und Gastgeberin der kleinen Runde an diesem Donnerstag. "Die Arbeitsgruppen des Kollegs ermöglichen einen Blick über den Tellerrand der eigenen Forschung hinaus. Nachwuchswissenschaftler aus den unterschiedlichsten Disziplinen diskutieren und erforschen dort wissenschafts- und gesellschaftspolitische Probleme jenseits des eigenen Fachgebietes", erklärt die 32-Jährige, die nach ihrer durch die Studienstiftung des deutschen Volkes geförderten Promotion wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Düsseldorf war.
"Schon beim Treffen im Januar hatten wir anregende Gespräche. Es versammeln sich dort viele Querdenker"
Dr. Daniel Wegner, Jahrgang 1975, hat in Oldenburg und Berlin studiert und nach seiner Promotion als Stipendiat der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an der Universität von Kalifornien in Berkeley, USA, geforscht. Nun leitet er am Physikalischen Institut der WWU und am CeNTech (Center forNanoTechnology) eine Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe für Nanophysik. "Mein Eindruck ist, dass das Junge Kolleg eine nette, offene Runde ist", beschreibt er seine erste Begegnung mit den anderen Stipendiaten bei dem Auftakttreffen im Januar in Düsseldorf. Dass die Kollegiaten gut miteinander auskommen, habe auch etwas mit dem fachlichen Respekt voreinander zu tun, meint Dr. Daniel Siemens aus Bielefeld, der seine Fachkenntnisse als Historiker in die Arbeitsgruppe einbringt. "Man hat immer einen Ansprechpartner, der einem Fragen aus einer anderen Disziplin geduldig erklärt", sagt er.
Der Sprecher der Arbeitsgruppe, Dr. David Schweikard, hat Philosophie, Soziologie, Kommunikationswissenschaft und Mathematik in Karlsruhe, Münster und Padua (Italien) studiert, war danach an den Universitäten Münster, Duisburg-Essen und Köln tätig und verbrachte Forschungsaufenthalte an US-amerikanischen Universitäten. Für Neues ist er nach wie vor offen: "Ich hoffe, mich hier weiterbilden zu können", erklärt er seine Motivation, an dem interdisziplinären Projekt mitzuarbeiten – trotz vollen Terminkalenders. Der 34-jährige Wissenschaftler arbeitet derzeit am Philosophischen Seminar der WWU an seiner Habilitation und hat wie die anderen Teilnehmer seine eigene Forschungsarbeit zu erledigen. Dazu kommen Lehrverpflichtungen, Tagungen, Gastaufenthalte an ausländischen Universitäten und andere freiwillige Verpflichtungen. Dennoch ist bei allen die Motivation hoch, das Projekt der Arbeitsgruppe voranzubringen. Regina Grundmann betont: "Wir hatten schon beim Treffen des Jungen Kollegs im Januar in Düsseldorf anregende Gespräche. Mein Eindruck ist, dass sich dort viele Querdenker versammeln. Der Kontakt funktioniert auch auf persönlicher Ebene gut."
Die Diskussionsrunde im Institutsgebäude in der Schlaunstraße war das erste Treffen der neu gegründeten Arbeitsgruppe. Für die nächsten Termine haben die Wissenschaftler Hausaufgaben im Gepäck. Jeder wird ein Impulsreferat vorbereiten, das ein Thema vertieft und den fünf Kollegen der Arbeitsgruppe neue Ideen für die weitere Arbeit liefert. So möchte Dr. Sonja Herres-Pawlis, Chemikerin aus Dortmund, eine Fallstudie zur Verantwortung von Chemikern vorstellen. Daniel Siemens, der Bielefelder Historiker, wird das Verhältnis von Verantwortung und Freiheit in den Humboldtschen Universitätsreformen des frühen 19. Jahrhunderts analysieren, und Dr. Julia Becker, Physikerin aus Bochum, will der Frage nachgehen, welchen Abhängigkeiten Forscher in ihrem Alltag unterliegen. Im Laufe des Projekts wollen die jungen Wissenschaftler eine Tagung zu dem Thema abhalten und am Ende ihre Ergebnisse in einem Sammelband publizieren – nach ein, zwei, vielleicht auch drei Jahren, in denen sie sich neben ihrer eigenen Forschungsarbeit mit dem Thema "Verantwortung und Wissenschaft" auseinandergesetzt haben.
Christina Heimken
JUNGES KOLLEG Das Junge Kolleg der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaft fördert herausragende Nachwuchswissenschaftler mit Unterstützung der Stiftung Mercator fachlich und finanziell. Die Berufung in das Kolleg stellt zudem eine persönliche Auszeichnung und Anerkennung dar. Derzeit gehören insgesamt 30 Stipendiaten dem Jungen Kolleg an, darunter sieben Wissenschaftler der Universität Münster. Vier Forscher der WWU wurden allein im Januar 2011 neu aufgenommen: Junior-Professorin Dr. Regina Grundmann vom Centrum für Religiöse Studien, Dr. Dominik Höink vom Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik, Dr. David Schweikard vom Philosophischen Seminar und Dr. Daniel Wegner vom Physikalischen Institut und CeNTech. Die Stipendiaten engagieren sich in einer oder mehreren kolleginternen Arbeitsgruppen zu wissenschafts- und gesellschaftspolitischen Themen. |