"Mein Enkel hat mit mir angegeben"
Als Maria Oetter im Jahr 1934 in Münster ihr Abitur machte, war sie eine von nur drei Schülerinnen, die mit Hochschulreife das Gymnasium verließen. Frauen, die studierten waren damals jedoch die absolute Ausnahme und von den Nationalsozialisten nicht gerne gesehen. Da sie schon immer Volksschullehrerin werden wollte, fragte sie ihren Vater dennoch, ob sie an der Universität studieren dürfe. "Kind, tu’ mir das nicht an", antwortete er. Denn Mitte der 1930er Jahre finanzierte er schon ihren drei älteren Brüdern die Ausbildung an der münsterschen Hochschule. Die junge Frau besuchte daraufhin je ein Jahr die Frauenoberschule und die höhere Handelsschule – mehr zur Überbrückung der Zeit, denn aus tatsächlichem Interesse – bis sie einsehen musste: "Der Zug für das Studium ist abgefahren."
Heute – 77 Jahre später – erfüllt Maria Oetter sich ihren Traum: Die Münsteranerin besucht seit fast 50 Semestern Vorlesungen des Weiterbildungsangebots "Studium im Alter" der Universität Münster und ist mit 96 Jahren mit Abstand die älteste Studentin der WWU. Das "Studium im Alter" ermöglicht Menschen mittleren und höheren Alters, sich je nach Interessensgebiet weiter zu bilden. Maria Oetter hat sich für das Fach Geschichte entschieden, so wie sie es auch als junge Frau getan hätte.
Im vergangenen Semester besuchte sie die Geschichtsvorlesung von Prof. Peter Johanek zur Historie der deutschen Ostsiedlung im Mittelalter. „Diese Epoche interessiert mich besonders. Große Teile des 20. Jahrhunderts habe ich selbst mitbekommen, das muss ich mir nicht in der Uni anhören“, findet sie. Geschichtsprofessor Peter Johanek ist 73 und emeritiert – seine Studentin Maria Oetter ist 23 Jahre älter. "Mir ist bewusst, dass ich eine Ausnahme bin", sagt die fünffache Urgroßmutter. Und das bezieht sich längst nicht nur auf ihre große Neugier und den Spaß am Lernen, sondern auch auf ihre gesamte Lebenssituation. "Aus meiner Abiturientia bin ich die Einzige, die bis ins hohe Alter den Haushalt allein macht", betont sie. Pflichtbewusst ergänzt sie, dass sie einmal in der Woche Hilfe von einer Putzfrau bekomme, so als ob ihre Agilität deshalb nicht ganz so besonders wäre. Für Maria Oetter ist es auch mit 96 Jahren noch selbstverständlich, das große Haus in Ordnung zu halten, die Wäsche selbst zu waschen und Essen zu kochen. "Früher war das alles mit viel Aufwand verbunden, aber heute ist das doch keine Arbeit mehr", findet sie. Auch kleinere Besorgungen erledigt sie selbst. "Jeden Mittwoch fahre ich mit dem Bus zum Wochenmarkt", sagt die Münsteranerin. Immer mit dabei hat sie ihre Tragetasche auf Rollen: "Mein Zwiebelporsche."
Rückblende: Dass Maria Oetter zu studieren begann, hatte einen traurigen Auslöser. Ihr Mann, den sie mit 22 Jahren heiratete, verstarb 1987 und auch ihre fünf Kinder waren längst aus dem Haus in Münsters Norden ausgezogen. Trotz tiefer Trauer fühlte sich Maria Oetter nun "ledig aller Pflichten" und beschloss, "mit den Dingen anzufangen, für die früher keine Zeit blieb". Böse ist sie um die Tatsache, dass sie kein reguläres Studium absolvieren konnte, jedoch nie gewesen. "Ich habe mir eine Familie mit vielen Kindern gewünscht, und zu meiner Zeit ließ sich ein Studium damit nicht verbinden", betont sie. Umso größer war ihre Neugier auf das "Studium im Alter". "In der Zeitung hatte ich schon oft davon gelesen und war neugierig geworden."
Meistens besucht sie die Veranstaltungen allein. Ihre jungen Kommilitonen schauen manchmal überrascht, seien aber stets zuvorkommend: "Wenn ich einmal zu spät komme und kein Platz mehr frei ist, bietet mir immer jemand seinen Stuhl an." Vor einigen Jahren begleitete Maria Oetters Tochter, die gerade in den Ruhestand gegangen war, sie zum "Studium im Alter". Und damit nicht genug: "In einer Vorlesung saß ich mit meinem Enkel. Ich glaube, er hat ein bisschen mit mir angegeben", sagt sie schmunzelnd. Bei der Auswahl der Vorlesung gibt es für die 96-Jährige ein wichtiges Kriterium. "Morgens um acht bin ich noch nicht auf den Beinen, und mittags halte ich ein Schläfchen."
Ein Rezept für ein langes Leben hat Maria Oetter indes nicht. "Ich habe mich immer viel bewegt – beim Schwimmen, Wandern oder der bei Gymnastik", sagt sie, aber eine Garantie sei das nicht. Auch heute bewegt sie sich noch viel: am liebsten bei der Arbeit in ihrem Garten, den sie weiterhin selbst pflegt. Aber nicht nur auf die körperliche Fitness legt sie Wert: "Ich möchte meine kleinen, grauen Zellen in Bewegung halten." Auch deswegen habe sie sich für das "Studium im Alter" entschieden.
Altersbedingte Probleme wie Seh- und Hörschwäche machen Maria Oetter zwar mittlerweile zu schaffen, weniger lebensfroh ist sie dennoch nicht. "Ich bin immer noch sehr zufrieden mit meinem Leben. Meinen 90. Geburtstag habe ich im Familien- und Freundeskreis groß gefeiert. Wenn es nach mir geht, soll das an meinem 100. wieder so sein."
Hanna Dieckmann