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"Menschen sind auf Beziehungen angewiesen"

Soziologe Prof. Matthias Grundmann im Interview über Gruppen- und Gemeinschaftsbildung

 

Fragen nach der Bedeutung von Gruppen und Gemeinschaften für das Individuum sind Forschungsschwerpunkte von Prof. Matthias Grundmann, Direktor des Instituts für Soziologie. Alice Büsch sprach mit ihm über Gruppenbildung, Regeln des Miteinanders und die Rolle des Individuums in der Gemeinschaft.

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Prof. Matthias Grundmann

Prof. Grundmann, wieso tun sich Menschen in Gruppen zusammen?

Ganz einfach: Menschen sind soziale Wesen und deshalb auf Gruppenbindungen und Beziehungen zu Anderen angewiesen. Die Gruppenzugehörigkeit ergibt sich zum Beispiel aus gemeinsamen Merkmalen wie Student einer Universität zu sein oder die gleichen Interessen zu haben. Teil einer Gruppe zu sein ist für die Identitätsfindung – Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? – bedeutsam. Es vermittelt uns außerdem das Gefühl der sozialen Einbindung und der Unterstützung durch andere.

Im Gruppen gelten manchmal strenge Regeln und Ordnungen. Wieso?

Gruppen ergeben sich ja erst durch den Zusammenschluss von Menschen aufgrund formaler Regeln des Miteinanders und der Vereinigung gemeinsamer Interessen. Die Mitgliedschaft setzt deshalb auch die Bereitschaft voraus, sich einer sozialen Ordnung zu unterwerfen. Dazu gehört zum Beispiel das Tragen von Gruppenemblemen wie in studentischen Corps. Die inhaltliche Ausrichtung von Gruppen kann natürlich sehr unterschiedlich sein. So finden sich bei Studentischen Verbindungen liberale, der Aufklärung verpflichtete Gruppen ebenso wie stark autoritäre – wenn nicht gar totalitäre.

Und wieso unterwerfen sich die Mitglieder diesen Regeln freiwillig?

Dafür kann es verschiedene Gründe geben: Zum einen etwa strategische Kalküle, also eine Nutzenmaximierung. Es sind aber auch gestalterische Potenziale denkbar, die sich erst im Gruppenleben entfalten können, also die Selbstverwirklichung. Möglich ist auch ein identitätsstiftendes Motiv, also die Motivation einen Platz zu finden, an den ich gehöre. Bei studentischen Verbindungen reicht das Motivationsspektrum von Selbstverwaltungsbedürfnissen über Prozesse der Charakterbildung bis hin zu Förderung der Karriere und Elitebildung.

Gibt sich das Individuum in der Gruppe zu Gunsten der Gemeinschaft auf, oder wird es eher gestärkt?

Hier muss man zwischen Gruppe und Gemeinschaft unterscheiden. Während für die Konstitution einer Gruppe das erlebte Zugehörigkeitsgefühl beziehungsweise die reine Mitgliedschaft reicht und diese vor allem durch formale Kriterien definiert ist, gilt für Gemeinschaften, dass sie auf eine gemeinsame Lebensführungspraxis und die Vertiefung persönlicher Beziehungen abzielt. Nicht alle, wahrscheinlich der geringere Teil studentischer Gruppierungen, lassen sich deshalb als Gemeinschaft bezeichnen. In jedem Fall aber führt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu einer sozialen Positionierung zu anderen und im Falle der Gemeinschaft auch zu einer Identifikation mit den Anderen. Diese Prozesse stärken die Persönlichkeitsbildung. Diese positiven Effekte werden allerdings durch autoritäre Strukturen untergraben, da diese individuelle Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten unterbinden. Wenn man sich als Person jedoch in das Gruppengeschehen einbringen kann, dann erfährt man sich als handlungswirksam. Diese Erfahrung wiederum stärkt auch das Selbstbewusstsein und das soziale Auftreten - kurzum: das persönliche In-Der-Welt-Sein. Wenn alle Mitglieder einer Gruppe dazu in der Lage sind, kann aus einer Gruppe auch eine "echte" Gemeinschaft werden.

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