Der Körper hat seine eigene Intelligenz

Neue Bewegungsmuster zu erproben, um unzweckmäßige zu erkennen und aufzugeben, ist das Ziel von Feldenkrais. Die Seminare in der Musikhochschule sind eine Möglichkeit, um Berufskrankheiten bei Musikern vorzubeugen.
Foto: Angelika Klauser
Feldenkrais sei keine Entspannungsmethode, das hatte Mick Daun vorher nachdrücklich betont. Doch als er die Anwesenheit überprüft, ist der erste schon eingeschlafen und muss geweckt werden – noch vor der ersten Übung. Zwölf Studierende der Musikhochschule sind an diesem frühlingshaften Dienstagnachmittag zusammen gekommen, um etwas über ihren Körper zu lernen. Denn Musiker verzaubern und entspannen zwar andere mit ihrem Spiel, gehen aber selbst ein hohes Risiko ein.
"Musizieren kann ein ziemlich gefährlicher Beruf sein", sagt Prof. Stefan Evers von der Klinik und Poliklinik für Neurologie. Bis hin zum Schlaganfall, vor allem bei Bläsern oder Sängern, reicht das Risiko. Aber auch weniger gefährliche Leiden können eine Karriere bedrohen. Da sind zum einen die orthopädischen Probleme – Haltungs- und Gelenkschäden. Die neurologischen Erkrankungen wie Engpasssyndrome oder Dystonien machen den zweiten Problemkreis aus. Und da sind dann auch noch die psychischen Erkrankungen wie Lampenfieber oder Versagensangst.
Von denen ist im Rhythmikraum nichts zu spüren. Doch körperliche Probleme haben bereits die Anfang 20-Jährigen. Durch die Neigung des Kopfes spüre sie immer ein einseitiges Ziehen, berichtet die Cellistin. Ungefähr einmal im Monat habe sie Krämpfe, allerdings nie, wenn sie spiele. "Wenn ich lange gespielt habe, gibt mein Brustkorb irgendwie nach und es kracht laut, wenn ich meinen Rücken strecke", erzählt der Violinist. Und der Pianist berichtet, dass sein Nackenbereich häufig verkrampft sei.
„Es geht dabei viel um Beziehungen: die Beziehung zu sich, zum Instrument und zum Publikum.“
Der Krankengymnast und Feldenkrais-Pädagoge Mick Daun weiß um die besonderen Bedürfnisse der Musiker. "Feldenkrais ist eine Methode, um sich selbst zu entdecken und festzustellen, was ich mit meinem Körper machen kann. Jeder Musiker ist bestrebt, ein variantenreicheres Spiel zu entwickeln und das ist auch das Ziel von Feldenkrais: die unzweckmäßigen Bewegungsmuster auflösen und neue Möglichkeiten der Bewegung entdecken", erklärt er. "Es geht dabei viel um Beziehungen: die Beziehung zu sich selbst, die Beziehung zum Instrument, die Beziehung zum Publikum." Die angehenden Berufsmusiker sollen lernen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, um eine Bewegung zu entwickeln. "Die meisten haben eine bestimmte Vorstellung und trauen sich nicht, zu experimentieren. Wenn sie versuchen, ein bestimmtes Vorbild zu erreichen, kann das nicht klappen, weil die Menschen unterschiedlich sind. Gerade Künstler müssen ihren eigenen Weg gehen."
Um seine Schüler auf diesen Weg zu bringen, lässt Daun zu Beginn der Stunde einen von ihnen vorspielen. An diesem Tag trifft es Wassil. Liszts Concerto Nr. 3 D-Dur erklingt durch den Raum, ein wenig angestrengt, wie es scheint. Seine Kommilitonen haben sich im Halbkreis versammelt und betrachten ihn neugierig. "Was ist Euch an seiner Haltung aufgefallen?" fragt Daun. "Irgendwie sitzt er gar nicht richtig auf seinen Sitzknochen", wirft Demian ein. Der 23-Jährige ist schon zum zweiten Mal dabei und hat ein Auge dafür entwickelt, wo die Haltung das Spiel beeinträchtigen könnte. "Am Anfang war der Rücken gerader, dann ist er wieder in sich zusammen gesunken", beobachtet Nele – ein Problem, dass Wassil selbst bewusst ist.
"Bewusstheit durch Bewegung" lautet das Motto von Feldenkrais. "Erst wenn ich genau weiß, was ich mache, kann ich machen, was ich möchte", erklärt Daun. "Wenn ich aber nicht genau weiß, was zum Beispiel mein Becken, meine Wirbelsäule, meine Atmung macht, ist es Zufall, was dabei herauskommt." Auch wenn Feldenkrais häufig als Entspannungsmethode angesehen wird und so beispielsweise auch von der Volkshochschule angeboten wird, ist es eher das Gegenteil. "Es geht darum einen Zustand zu erreichen, in dem man wach und aufmerksam gegenüber seinem eigenen Körper und der Umwelt ist", so Daun.

Einer spielt, alle schauen zu: Durch die genaue Beobachtung des Kommilitonen lernen die Studierenden, worauf sie achten müssen.
Foto: ak
"Es ist interessant zu sehen, dass man durch Beobachtung mit der eigenen Bewegung ökonomischer umgehen kann", meint die 21-jährige Nele. Sie weiß besonders gut, wie wichtig das ist, denn als Cellistin wird sie nicht nur durch das Spiel beeinträchtigt. Sieben bis acht Kilo wiegt das Instrument inklusive Kasten, das sie jeden Tag durch die Stadt trägt, seit sie zwölf Jahre alt ist. Da bleiben Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich nicht aus. Die Geige, die Demian spielt, ist leichter zu transportieren. Dafür aber sei im Spiel durch die extrem einseitige Haltung die Belastung größer. "Früher habe ich die Geige immer stark eingeklemmt, jetzt halte ich sie mehr mit dem Arm, nachdem ich das erste Feldenkrais-Seminar mitgemacht habe", erzählt er. "Dabei hat Feldenkrais körperlich direkt erstmal kein Ergebnis", ist seine Erfahrung. "Es ist mehr ein Anstoß über sich selbst nachzudenken und nicht nur über die Interpretation des Stücks."
Im Seitsitz, den einen Arm aufgestützt, den anderen in Brusthöhe angewinkelt, die Hand locker herabhängend, sollen sich die Studierenden drehen und sich dabei den Punkt im Raum merken, bis zu dem ihre Augen wandern. "Mein Fuß schläft ein", meint eine der Studentinnen. "Dann tu was dagegen. Dein Fuß gehört Dir", kontert Daun locker. Er gibt zwar die Übung vor, aber wie sie ausgeführt wird, soll jeder für sich selbst entscheiden. "Manchmal muss ich mich schon zurückhalten, um ihnen nicht zu zeigen, wie sie sich bewegen sollen. Aber nur Bewegungen, die man selbst entdeckt hat, lässt unser Gehirn zu einem eigenen Muster werden."
"Wir wollen nur angenehme und leichte Bewegungen machen."
Das Gedächtnis kann eine vertrackte Sache sein, weiß Prof. Stefan Evers. Der Neurologe hat häufiger mit Dystonien zu tun. Das sind Verkrampfungen, die unter anderem durch eine asymmetrische Beanspruchung des Gehirns entstehen. Robert Schumann beispielsweise war ein begabter Pianist. Um den schwächsten Finger, den Ringfinger der rechten Hand, zu trainieren, übte er wie besessen – so lange, bis der Finger verkrampfte und Schumann nicht mehr spielen konnte. "Da hat er dann auf Komponist umgesattelt", beendet der promovierte Musikwissenschaftler Evers die Geschichte.
Die Verselbstständigung der Bewegungsmuster im Gehirn, die die Verkrampfungen auslösen, lasse sich zwar lindern, aber nur in den seltensten Fällen heilen. Betroffen seien nicht nur die Gliedmaßen, sondern bei Bläsern beispielsweise auch die Lippen. "Es gibt Risiken, die man vorhersehen kann, und die man präventiv behandeln kann", so der Neurologe, der eine Musikersprechstunde anbietet. Feldenkrais sei eine Möglichkeit, er empfehle aber eher die so genannte "progressive Muskelentspannung", bei der es darum geht, Muskelpartien bewusst anzuspannen, um auch die Entspannung bewusst herbeiführen zu können.
Wichtig sei auch das fraktionierte Üben, mit Einheiten nicht länger als einer Stunde und mindestens 15 Minuten Pause dazwischen. In den vergangenen Jahren habe sich auch gezeigt, dass Spiegelbewegungen der Fehlprogrammierung des Gehirns entgegenwirken können. "Ein Geiger beispielsweise hat eine extrem asymmetrische Haltung, die sich in den Verschaltungen im Hirn widerspiegelt. Wenn er von Zeit zu Zeit die Gegenseite trainiert, kann er diesen Asymmetrien im Gehirn entgegenwirken." Und wenn dann doch Verkrampfungen auftreten, dann helfen in einigen Fällen Botox-Spritzen, um die Muskeln weicher zu machen.
Hochmoderne Technik wie dieses Stroboskop ermöglicht die möglichst schonende Diagnose bei erkrankten Sängern. Auf dem Monitor sind die Stimmlippen zu erkennen.
Foto: wg
Weich sollen auch die Bewegungen bei Feldenkrais-Lektionen sein. "Wir wollen heute nur angenehme und leichte Bewegungen machen", mahnt Daun. Doch die Aufgabe, vor die er seine Schüler stellt, ist vertrackt: Erst muss das Becken in der Drehung mitbewegt werden, dann die Schultern, dann der Kopf, schließlich die Augen – und zwar jeweils gegenläufig. Auf einigen Gesichtern macht sich Ratlosigkeit breit, ganz ernst können andere die Sache auch nicht nehmen. Aber immerhin: Bei jedem neuen Versuch werden die Bewegungen ausgreifender, wandert der fiktive Punkt im Raum weiter – ohne dass die Muskeln sich mehr hätten anstrengen müssen. "Das Gehirn ist ein Organ, das von der Wahrnehmung abhängig ist. Wenn wir anfangen, spürend zu bewegen, verändert es seine Muster und wir können unser volles Potenzial entwickeln", erklärt Daun das Ergebnis.
"Wir waren entsetzt, was wir alles an organischen Veränderungen am Kehlkopf gefunden haben."
Nicht nur die Studierenden der Musikhochschule profitieren von dem Training, auch die Patienten der Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie. Hier bietet Daun die Feldenkrais-Einzelstunden für Patienten an, deren Stimme gelitten hat und die sie beruflich brauchen, wie zum Beispiel Lehrer. Vor allem Sänger müssen hochsensibel mit ihrem empfindlichen Organ umgehen. Eine eigene "Sängersprechstunde" soll demnächst hier eingerichtet werden. "Es ist ein Glücksfall, dass wir gleich zwei Ärzte hier haben, die ausgebildete Sänger sind", meint Prof. Antoinette am Zehnhoff-Dinnesen. Oberarzt Dr. Dirk Deuster ist Bariton, sein Kollege Dr. Ken Roßlau Bass. "Ich singe selber nicht, aber ich kann die Rhythmik beisteuern, weil ich früher geritten bin", sagt am Zehnhoff-Dinnesen. Alle drei sind sich sicher, dass man um die speziellen Bedürfnisse von Sängern wissen muss, um sie adäquat zu behandeln. "Das fängt schon damit an, dass eine Krankheit viele Probleme nach sich zieht. So muss ein Auftritt entweder ganz abgesagt werden oder ein Ersatz verpflichtet werden. Daher müssen Sänger sehr zeitnah behandelt werden", erklärt Deuster.
FELDENKRAIS Die Feldenkrais-Methode wurde von dem israelischen Physiker Moshé Feldenkrais erfunden. Feldenkrais, der Judoka war, entwickelte diese körperorientierte Lernmethode aus verschiedenen Ansätzen der künstlerischen Körperschulung sowie aus Erkenntnissen der manuellen Medizin, vor allem der Entwicklung der neurologischen Behandlungsmethoden. Feldenkrais hat sich nach Verletzungen und in der Regulation fehlhaltungsbedingter Schäden bewährt. Dabei wird Wert auf möglichst kleine Bewegungen gelegt, um so die Lernfähigkeiten des menschlichen Nervensystems möglichst gut auszunutzen. |
"Vor einigen Jahren haben wir eine Reihenuntersuchung an Gesangsstudenten durchgeführt. Wir waren entsetzt, was wir alles an organischen Veränderungen im Kehlkopf gefunden haben", erzählt am Zehnhoff-Dinnesen. "Das könnte auch daran gelegen haben, dass die Studierenden, um Geld zu verdienen, jeden Job angenommen haben und sich in einem ganz anderen Genre als dem gelernten verausgabt haben." Insgesamt aber seien Erkrankungen von Sängern gut zu heilen, bislang sei es noch nicht vorgekommen, dass einer den Beruf ganz habe aufgeben müssen.
Nicht aufgegeben hat auch Wassil. Obwohl er ungern noch einmal vor den anderen auftreten will, setzt er sich am Ende der Stunde erneut ans Klavier. Der Unterschied ist frappierend: Leicht perlt Liszt dahin, es scheint, als spiele der Bulgare zwei ganz unterschiedliche Stücke. Der Erfolg scheint Daun recht zu geben, aber er warnt auch vor den Nebenwirkungen: "Ich würde niemals mit einem Musiker kurz vor einem Konzert Feldenkrais-Übungen machen, weil die gesamte Bewegungsorganisation auf den Kopf gestellt werden kann. Wir wollen ja neue Automatismen entstehen lassen, aber direkt vor einem Konzert wäre das kontraproduktiv." Und tatsächlich: Nach der Feldenkrais-Übung scheinen plötzlich alle Buchstaben auf der Tastatur durcheinander gewirbelt, die Arme verkrampfen, nur mühsam fügen sich die Wörter zusammen. Einige Tage dauert dieser unangenehme Zustand, dann findet sich der Körper neu. Die Haltung ist aufrechter, die Arme grader und die Finger knallen nicht mehr auf die Tastatur. Der Körper hat seine eigene Intelligenz – wenn man ihn lässt.
bn