Was von Kyrill übrig blieb

Wie Mikadostäbe fielen die Linden im Schlossgarten.
Peter Prief (l.) und Klaus Willamowski überlegen, wie die Allee aufgeforstet werden kann.
Die letzten Reste des japanischen Schurbaums am Teich im Botanischen Garten.
Zwei Bäume fielen auf die Baracke neben dem Schloss.

15 Monate später wuchern Büsche an derselben Stelle.
Fotos: Grewer (2), Ritz (3)
Sonnenstrahlen fallen durch das junge Grün der Buchen. Hier tirilliert ein Vogel, dort summt eine Biene. Unter den Füßen eines Joggers knacken Äste, versonnen blinzelt er durch das Laubdach ins Licht. Plötzlich springt mit dröhnendem Tuckern ein Motor an. Wenig später durchschneidet kreischendes Ächzen die frühsommerliche Idylle im hinteren Schlossgarten. Gärtner Mirko Zumdick hat Trecker und Fräse in Position gebracht. Helm auf, Ohren- und Gesichtsschutz runter und ran an die Baumstümpfe. Wie kleine Mahnmale ragen die toten Stämme noch rund zwanzig Zentimeter über die Erde hinaus. Sie sind fast das Einzige, was von Kyrill geblieben ist.
Als stärkster flächendeckender Sturm seit 20 Jahren schrieb der Orkan vom 18. Januar 2007 deutsche Geschichte: Mit Böen bis zu 200 Stundenkilometern fegte er über das Land, riss Dächer und Stahlkräne mit sich, entwurzelte Bäume und sorgte an mehreren Flüssen für Hochwasser. 13 Menschen starben. Sein Namensgeber hätte vermutlich nicht damit gerechnet, dass er es einmal zu solch trauriger Berühmtheit bringen sollte: Der Brandenburger Kyrill Genow hatte die Namenspatenschaft für ein Tiefdruckgebiet zuvor von seinen Kindern zum 65. Geburtstag geschenkt bekommen.
Augenfälligster Schaden in Münster: die Promenade vorm Schloss. Wo heute wieder junge Linden sprießen, fanden die Helfer am Tag nach dem Sturm ein Schlachtfeld vor. Ähnlich sah es im Botanischen Garten und im Schlossgarten aus. "Wie Mikadostäbe", erinnern sich Gärtnermeister Peter Prief, Sachgebietsleiter im Dezernat 4, und Klaus Willamowski, Vorhandwerker im Bereich Schlossgarten. Hausmeister Siedenstein habe abends angerufen und gesagt, dass alle Bäume umfallen. "Doch was sollten wir machen? Einen hinstellen, der die festhält?" fragt Prief hilflos.
"Das war das einzig Gute an Kyrill. Dass die Leute billiges Brennholz bekommen haben."
Als die Gärtner am nächsten Morgen zur Arbeit kamen, waren sie sprachlos: Die Lindenallee Richtung Schlossgartencafé existierte praktisch nicht mehr. Zwei Bäume waren auf die Baracke gestürzt, in der das Auslandsamt sitzt. Am östlichen Ende des Areals waren ebenfalls Linden umgestürzt und hatten dabei Bestände des Botanischen Gartens erwischt. Der Gesamtschaden? Willamowski macht eine wegwerfende Handbewegung: "Bei 230 Bäumen haben wir aufgehört zu zählen." Etwa ein Drittel des alten Bestands sei Kyrill zum Opfer gefallen, schätzt er.
Allein um die gröbsten Schäden zu beseitigen und die Wege frei zu räumen, schufteten sechs bis acht Uni-Gärtner drei Wochen lang täglich zehn Stunden im Schlossgarten. Zehn Motorsägen waren im Einsatz. 15 bis 20 Sägeketten sind allein für die Kyrill-Schäden draufgegangen – in ruhigen Jahren liegt der Durchschnitt bei zwei Ketten. Um das Holz loszuwerden, verkauften es die Gärtner kleingesägt an Münsteraner. Rund 4000 Euro kamen bei der Aktion zusammen. "Das war auch das einzig Gute an Kyrill", sagt Willamowski. "Dass die Leute billiges Brennholz gekriegt haben."
Als sei nichts gewesen, verkehrten am Tag nach dem Sturm schon wieder die ersten Läufer und Spaziergänger im Schlossgarten. Die Gärtner setzten zunächst auf deren Vernunft und baten alle, den Garten zu verlassen, um die Eingänge abzusperren. Die Situation war lebensgefährlich: Dicke Äste baumelten an einzelnen Rindenfasern herab. Kreuz und quer lagen die umgekippten Bäume übereinander. Auf einige wirkten durch die in der Erde steckenden Wurzeln unberechenbare Zugkräfte – jederzeit hätten Stämme hochschnellen und Menschen mitreißen können.
Mit Absperrgittern, Schlössern und Ketten riegelten die Gärtner den Park ab. "Doch wir mussten in den Wochen danach feststellen, dass zur Grundausstattung von Läufern offensichtlich Bolzenschneider gehören", spielt Prief verärgert auf durchgekniffene Drähte an. Nicht nur am Tag danach fanden Jogger und Spaziergänger immer wieder Schlupflöcher.
Rund 15 Monate später beäugen Spaziergänger Mirko Zumdicks schrille Fräse immer noch skeptisch. Aber wenigstens verbietet ihnen niemand mehr den morgendlichen Ausflug in den Schlossgarten. Rund um das Gerät riecht es säuerlich nach geschreddertem Holz. Der Auspuff des Treckers, an den die Fräse über eine Zapfwelle angeschlossen ist, stößt graue Rauchwölkchen aus. Innerhalb von 20 Minuten hat Zumdick den Stumpf weggefräst. "Abends sieht man immer aus wie sonst was", stöhnt er in einer kurzen Pause und fährt sich mit dem Ärmel durchs verschwitzte Gesicht. Holzspäne kleben an seiner Stirn, auf der Nase, am Kinn, eigentlich überall.
Vier Meter weiter hinter dem grünen Zaun ist die nächste Baustelle. Hier werkeln die Mitarbeiter des Botanischen Gartens an einer neuen Attraktion: Ein Farntal soll dort entstehen, wo sich momentan noch braune Erdberge auftürmen. Für neugierige Besucher hat der technische Leiter Herbert Voigt extra eine Aussichtsplattform angelegt. Von dort können sie die Bauarbeiten beobachten. Hier stürzten Linden aus dem Schlossgarten in den Botanischen Garten und rissen sieben Fichten mit sich. An einer anderen Stelle erwischte es eine einhundert Jahre alte Erle. "Lässt sich schwer schätzen, wie hoch hier der Schaden war", sagt Voigt. Wirtschaftlich habe es keinen gegeben, weil der Botanische Garten kein Holzproduzent ist. "Trotzdem tat es in der Seele weh!"
Kyrill habe sich angekündigt, die Ruhe vor dem Sturm war deutlich zu spüren, so Voigt. Die Geräusche draußen verstummten, alle Tiere waren plötzlich ruhig, die Farben anders. Es war, als ob die Natur vor Ehrfurcht innehielt. "Es stimmte nichts mehr", erinnert sich Voigt an den 18. Januar 2007. Er und seine Mitarbeiter blieben so lange, bis der Sturm schließlich so schlimm war, dass alle befürchteten, nicht mehr heil nach Hause zu kommen. Zu Hause konnte Voigt nicht richtig schlafen, weil er in Gedanken draußen bei seinen Pflanzen und Bäumen war.
Mit einem komischen Gefühl kam auch seine Mannschaft morgens im Garten an. Sämtliche Schilder mit Pflanzennamen lagen platt in den Beeten, überall Äste, 15 Bäume hatte es richtig erwischt. "Wir sind als erstes ins Tropenhaus gelaufen, um zu schauen, ob da was kaputt ist", weiß Voigt noch. Für die dortigen Pflanzen hätten zerborstene Scheiben den Tod bedeutet, denn sie reagieren sehr empfindlich auf eindringende Kälte. Doch Glück im Unglück: Im Tropenbereich war alles in Ordnung. Umso schlimmer hatte es die Dachflächen auf einem Gewächshaus getroffen. Spitze Eisenbleche, die dort die Luftzufuhr regulieren, fanden Voigts Mitarbeiter im ganzen Garten. "Wär’ hier damals einer lang gegangen, den hätte es halbiert", sagt der Leiter des Botanischen Gartens.
Jetzt sprießen dort, wo Schilder, Bleche und Äste lagen, die ersten Knospen, Vogelgezwitscher erfüllt die laue Luft. "Ein Segen war’s nicht", betont Voigt. "Wir hätten jeden alten Baum lieber behalten!" Trotzdem versucht sein Team, das Beste aus den Schäden zu machen. Jahrespraktikant Wendelin Bitzenner und Gärtner Werner Thiemann verbreitern gerade die mannshohe Klamm, um die herum Farne angepflanzt werden sollen. Energisch stoßen sie mit ihren Spaten in die festen Erd- und Lehmschichten und werfen den Matsch auf die höher werdenden Haufen rund um die Baustelle.
Schlafen, das könnten sie gut nach so einem Tag, frohlockt Thiemann und schippt und schaufelt ächzend weiter. Im nächsten Moment wiegt sein Kollege Bitzenner nachdenklich ein brotlaibgroßes Stück Erde in der Hand, das metallisch schillert – eine versteinerte Wurzel. "Zum Glück keine Bombe", seufzt Thiemann. "Immer wenn es so komisch klingelt unterm Spaten, schau ich zweimal hin!" Es gibt noch viel zu tun für die beiden: Terrassen sollen sich an das Tälchen anschließen. Der Weg und die Wände der Terrassen sollen mit Stein verkleidet werden, deshalb müssen Thiemann und Bitzenner den Hauptweg soweit ausschaufeln, dass ihr Gefährt, der Minikipper, hindurch passt. Immerhin: Nach einigen Stunden Arbeit ist das kein Problem mehr.
"Das Klima hat sich gewandelt. Kyrill war nicht der letzte Orkan."
Auch im Schlossgarten könnte Kyrill den letzten Anstoß für Veränderungen gegeben haben: Gerade sucht der Bau- und Liegenschaftsbetrieb Nordrhein-Westfalen nach Fotos oder Abbildungen, die den alten barocken Zustand des Parks zeigen. Sollten die Pläne wahr werden, könnte der Schlossgarten in einigen Jahren wieder in "schlaunscher Pracht" erstrahlen. Voigt, Willamowski und Prief befürchten allerdings, dass das umsonst sein könnte. Sie kennen ihre Anlagen seit Jahrzehnten, haben schon viele schwere Orkane, Hagelschauer und Unwetter miterlebt, aber der Sturm im vergangenen Jahr übertraf alles. "Das Klima hat sich gewandelt", sagt Voigt und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: "Kyrill war nicht der letzte Orkan!"
jri