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Die Schatten der Vergangenheit

Erinnerung an NS-Zeit durch Diskussion um Rassehygieniker wieder aufgelebt

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Die Schatten der Vergangenheit liegen auf dem Jöttenweg. Der Namensgeber betrieb rassehygienische Forschung und befürwortete Zwangssterilisationen. Jetzt wurde das Straßenschild überklebt.

Foto: Juliette Ritz

 
Der Jöttenweg ist kurz und unscheinbar. Bislang kannten ihn selbst in Münster nur wenige Menschen. Doch seit einigen Wochen ist die Aufregung um ihn groß, denn sein Namensgeber, von 1924 bis 1958 Direktor des Instituts für Hygiene des Universitätsklinikums, wird in Zusammenhang mit rassehygienischen Forschungen und der Untersuchung von Hilfsschülern gebracht. Um die Verstrickungen von Prof. Karl Wilhelm Jötten und anderer Wissenschaftler zu untersuchen, haben Rektorat und Fakultät Untersuchungskommissionen eingesetzt.

Jötten war offenbar  nicht der einzige, der seine Karriere über die Moral stellte. Opportunismus, Karrieresucht und ideologische Verblendung gehörten zum Alltag vieler. Wissenschaftler wurden von ihren Fachkollegen angeschwärzt, weil sie Juden waren oder weil sie ihren Lehrstuhl freimachen sollten. Studenten errichteten Schandpfähle mit den Namen jener, die als "undeutsch" erachtet wurden – damit taten sich die münsterschen Studierenden besonders hervor, passierte dies doch nur an fünf deutschen Hochschulen, wie im 1995 erschienene AStA-Reader "Kiepenkerl und Judenstern" zu lesen. Die Zeit von 1933 bis 1945 und danach ist für die WWU wie für jede andere deutsche Hochschule kein Ruhmesblatt. Bislang existiert noch keine umfassende Darstellung jener Zeit. Allenfalls in Einzelpublikationen und Doktorarbeiten werden Teilaspekte abgehandelt.

In seiner Examensarbeit "Eugenik und Rassenhygiene in Münster zwischen 1918 und 1939", die 2004 erschienen ist, schildert Jan Nikolas Dicke die düstere Seite des als Staublungenforscher bekannt gewordenen Jötten: Mehr als 20 Doktorarbeiten beschäftigten sich nach 1933 an seinem Institut mit der Untersuchung von Hilfsschülern unter rassehygienischen Gesichtspunkten. Die Eugenik gehörte seit Ende des 19. Jahrhunderts zu den anerkannten Wissenschaften, Vertreter waren in allen Parteien und allen Schichten zu finden. Die Bandbreite reichte von der positiven Eugenik, die die Fortpflanzung Gesunder fördern, bis zur negativen Eugenik und Rassehygiene, die die Fortpflanzung Kranker und anderer "unwerter" Menschen durch verschiedene Maßnahmen verhindern wollte. Auch an der Universität Münster beschäftigten sich Wissenschaftler bereits früh mit ihr. Eugen Kurz, Assistent am Anatomischen Institut, las ab 1921 regelmäßig zur Rassenkunde, ab dem Wintersemester 1933/34 dann zur "Speziellen Rassenkunde: Das jüdische Volk", wie in "Kiepenkerl und Judenstern" beschrieben. Jötten selbst hielt erstmals im Wintersemester 1927/28 zur "Rassen- und Fortpflanzungshygiene" eine Vorlesung. Aber auch der katholische Theologe Prof. Georg Schreiber engagierte sich bereits in der Weimarer Republik für Eugenik und Rassenhygiene. Anders als Jötten aber verband er sie mit sozialpolitischen Konzepten wie Mutter- und Kindesschutz und dem Schutz des ungeborenen Lebens, schreibt Dicke.

Während Schreiber 1935 von den Nazis auf einen Lehrstuhl an der unbedeutenden Hochschule von Braunsberg abgeschoben und dann 1936 zwangsemeritiert wurde, arrangierte sich Jötten mit dem Nationalsozialismus, wie viele seiner Kollegen an der Medizinischen Fakultät. Ein Überzeugungstäter war er wohl nicht, darin ebenfalls vielen seiner Kollegen ähnlich. Aus katholischem Milieu stammend, erntete er im Gegenteil zu Beginn des NS-Regimes harsche Kritik von führenden Rassehygienikern. "Am Hygienischen Institut hingegen registrierte man die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und den mit ihr einhergehenden Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik durchaus mit gemischten Gefühlen", so Dicke. Er schildert Jötten als Wissenschaftler, der versuchte, sich an die neuen Machthaber anzupassen und zumindest an der Universität Münster das Hygiene-Institut als Zentrum der rassekundlichen Forschung zu etablieren. So protestierte Jötten, als der Staatsrechtler Ernst Rosenfeld im Sommersemester 1937 eine Vorlesung zur "Gesellschaftspathologie und Gesellschafts-Hygiene im neuen Reich" ankündigte und beschwerte sich beim Rektor, ein solches Thema könne angemessen nur von einem Mediziner behandelt werden.

Unterstützt wurde er von seinem Assistenten Heinz Reploh, der sich ebenso wie Jötten zu arrangieren verstand. Noch 1932 hatte er keine gravierenden Wertunterschiede zwischen kranken und gesunden Menschen machen wollen, 1935 legte er zusammen mit Jötten die Ergebnisse erbhygienischer Untersuchungen an über 4300 Hilfsschülern aus dem Rheinland und Westfalen vor. "Unisono verteidigten die Schüler Jöttens das Sterilisationsgesetz als Tat von ungeheurer geschichtlicher Bedeutung für das deutsche Volk", so Dicke.

Jötten, der im Mai 1933 in die NSDAP eingetreten war, blieb nach dem Krieg im Amt, ebenso wie viele seiner Kollegen. Prof. Ferdinand Kehrer, Direktor der Psychiatrischen Klinik, wurde sogar der erste Dekan der Fakultät nach dem Krieg. "Dies allerdings nur, weil er der einzige war, der nicht in die NSDAP oder eine ihrer angeschlossenen Organisationen eingetreten ist", so der Medizinhistoriker Prof. Peter Kröner. Parteimitglied war Kehrer zwar nicht, trotzdem wurde er 1934 an das Erbgesundheitsobergericht (EOG) nach Hamm berufen. In seinen Erinnerungen von 1961 beschreibt sich Kehrer als Klinikdirektor, der versuchte, "nicht wenige Menschen vor nicht zureichend begründeten Unfruchtbarmachungen zu bewahren". Doch Jan Leygraf kommt in seiner 2006 vorgelegten Dissertation über die Psychiatrische Klinik von 1928 bis 1940 zu einem anderen Schluss: "Gleichwohl lassen Kehrers eigene Darstellungen keinen deutlichen Widerstand gegen das Erbgesundheitsgesetz erkennen. Auch implizieren sie, dass er bei ,einwandfrei erwiesener erblicher Verursachung’ eugenische Maßnahmen keineswegs ablehnte, sondern durchaus billigte."

Kehrer ist wohl eine der ambivalentesten Figuren der damaligen Zeit. In ihrer Disseration von 1986 berichtet Susanne Hosse, dass sich Kehrer 1935 zunächst weigerte, als er aufgefordert wurde, die Zahl der als erbkrank einzustufenden Patienten zu melden. Auch Leygraf kommt zu dem Ergebnis, dass die Zahl der gemeldeten Schizophrenie-Patienten mit 54 Prozent relativ niedrig lag. Dicke dagegen berichtet, dass Kehrer Zwangssterilisationen nicht nur als Richter am EOG verhängte, sondern selbst die Patienten auf die Operation vorbereitete. Und als dem Klinikum 1935 die Genehmigung für Sterilisationen entzogen werden sollte, protestierte Kehrer dagegen ebenso wie der Direktor der Chirurgie, Prof. Hermann Coenen, weil der Verlust lukrativer Einnahmen drohte. Coenen hatte, so zitiert ihn Dicke, noch einen anderen Grund: "Sterilisationen sind Krankheitsfälle, deren Erledigung wohl immer gelingt und daher Freude machen."

Eindeutigkeiten sind in den Biographien jener Zeit kaum zu finden. So gehörten sowohl Jötten als auch Kehrer laut einer Dissertation von Heike Hafemann aus dem Jahr 1982 zu den Kollegen, zu denen der Direktor der Augenklinik, Prof. Aurel von Szily, besonders engen Kontakt hatte. Der aber war Jude und wurde 1935 entlassen. Auch Prof. Heinrich Többen, Gründer des Instituts für gerichtliche und soziale Medizin, hat sich, Jötten vergleichbar, dem nationalsozialistischen Regime angedient, um damit Vorurteile gegen seine katholisch beeinflusste Position auszuräumen. "Er hat eine erbbiologische Sammlung aufgebaut, um nachzuweisen, dass Kriminalität angeboren ist, eugenische Theorien vertreten und sich für die Sterilisierung von Kriminellen ausgesprochen", so Kröner. Damit war er allerdings – zumindest was seine eigene Person betraf – nicht erfolgreich. In einer Dissertation aus dem Jahr 1966 von Werner Siegel findet sich folgendes Zitat aus Többens Personalakte von 1941: "Politisch steht er noch heute gegen die Bewegung, ist konfessionell äußerst stark gebunden und verkehrt sehr viel mit der katholischen Geistlichkeit. Dr. Többen gehört zwar dem RDB, der NSV sowie als förderndes Mitglied der SS an, doch kann, unter Berücksichtigung der bisher mit ihm gemachten Erfahrungen, mit Bestimmtheit angenommen werden, dass diese Zugehörigkeit nur zweckbedingt ist und mit seiner inneren Gesinnung nichts zu tun hat. Zusammenfassend muss darauf hingewiesen werden, dass der Angefragte noch in keiner Weise den Beweis dafür erbracht hat, dass er jederzeit bereit ist, rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einzutreten."

Jötten, Kehrer, Többen, Coenen – sie sind nur Beispiele dafür, dass noch lange nicht die Rolle aller Mitglieder dieser Universität im Dritten Reich aufgearbeitet ist. Die Liste lässt sich beliebig auch auf andere Fächer ausdehnen. Der Physiker Hermann Senftleben, unter den Studierenden bekannt geworden als der "uniformierte Professor", weil er gerne in SA-Uniform in seinen Vorlesungen auftrat, der Jurist Rosenfeld, der an der Ausgestaltung des Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses beteiligt war, der Psychologe Wolfgang Metzger, Mitglied von NSDAP und SA, nach dem Krieg überzeugter und liberaler Demokrat: Sie alle haben Brüche in der Biographie, die in der Nachkriegszeit nicht angesprochen und dann jahrzehntelang vergessen wurden. Selten mussten sich die Wissenschaftler, die sich dem Druck bereitwillig oder murrend gebeugt hatten, vor ihrem Tod verantworten. Der Soziologe Helmut Schelsky, der Weltruhm mit seinem Buch "Die skeptische Generation" erlangte und 1960 an die WWU berufen wurde, war einer der wenigen, der sich zu Lebzeiten mit seiner NSDAP- Mitgliedschaft auseinandersetzen musste.

Die WWU folgte in der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit dem Trend  der Gesellschaft. Peter Respondek beschreibt in "Besatzung, Entnazifizierung, Wiederaufbau", erschienen 1995, wie wenig konsequent die Entnazifizierung tatsächlich verlief, zu verdanken wohl auch Georg Schreiber, von den Briten als Rektor eingesetzt: "In seiner Funktion als Rektor sah er sich jedoch veranlasst, alles zu unterbinden, was seiner Ansicht nach den Frieden an der Universität stören konnte. Der Universität nicht dienlich war, so seine Überzeugung, wenn ihr durch die Entnazifizierung die besten Kräfte entzogen würden, und allen, die Mitglied in der Partei oder in einer der ihr angeschlossenen Organisationen waren, ständig die mögliche Entlassung vor Augen stand." Im November 1948 wurde ermittelt, dass 48 Lehrstuhlinhaber im Amt belassen und 20 zunächst entlassen wurden. Von diesen wurden jedoch elf wieder eingesetzt. Einige der Entlassenen wurden im Laufe der 1950er Jahre  wieder in den Lehrkörper aufgenommen, wie Hermann Senftleben, oder bekamen an einer anderen Hochschule einen Lehrstuhl, wie der Kirchenhistoriker Josef Lortz, so Universitätsarchivarin Dr. Sabine Happ.

"... dass eine Korrektur des begangenen Unrechts heute nicht mehr möglich ist und dass sich die Universität deshalb von der eigenen Schuld nicht durch einen einmaligen Akt befreien kann ...", heißt es in der Erklärung des Senats zur Aberkennung von Doktorgraden, Zwangsemeritierungen, Relegationen und dem Missbrauch von Zwangsarbeitern aus dem Jahr 2000. An die Opfer erinnert seitdem ein Mahnmal im Erdgeschoss des Südflügels des Schlosses. Es wird höchste Zeit, sich auch mit Tätern und Mitläufern zu beschäftigen, wie es bereits mit dem 1951 nach Münster berufenen Prof. Otmar von Verschuer, dem Doktorvater und theoretischem Kopf des Zwillings"forschers" Josef Mengele, in den 1980er Jahren geschehen ist.

Brigitte Nussbaum

siehe auch Kommentar