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Wellenkino vor dem Windenleitstand

Die Geographin Katharina Muhle war zwei Monate vor dem Südpol unterwegs

 Muz 703 Eisbrecher

Wochenlang kämpfte sich der Eisbrecher "Polarstern" durch das Packeis am Südpol.

Fotos (3): privat

 

 Zuerst schwebt er als kleiner elektromagnetischer Punkt über den Radarbildschirm. Draußen herrscht absolute Stille. Auf der ölglatten Oberfläche der dunklen See dümpeln kieselsteingroße durchscheinende Eisbrocken vor sich hin. Nebelschwaden wabern über das Wasser. Mit jedem Atemzug stoßen Wölkchen in die eiskalte Luft. Dann taucht er auf. Wie ein hausgroßes Geisterschiff treibt der erste Eisberg geräuschlos vorbei.

 

"Als das mit dem Eis im Wasser anfing, stand ich ungefähr sechs Stunden auf der Brücke und hab’ geschaut."  Es hört sich surreal an, als  Katharina Muhle zwei Monate später in einem Straßencafé beschreibt, wie sie auf den ersten Eisberg ihres Lebens gewartet hat. Es ist Mitte April, die Sonne treibt die ersten Schweißperlen ins Gesicht.

Als die Geographiestudentin am 30. Januar das Festland am südlichsten Zipfel Amerikas in Punta Arenas verlässt und über eine wacklige Gangway den gedrungenen Eisbrecher "Polarstern" betritt, erfüllt sich für sie ein Lebenstraum. An Bord des Forschungsschiffes des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven soll sie zwei Monate als studentische Hilfskraft mit 43 Besatzungsmitgliedern und 56 Wissenschaftlern zum Südpol fahren. Auf 11832 Seemeilen wird sie die grenzenlose Weite des Südpolarkreises erfahren und die Enge eines Forschungsschiffs. Einen vom Sturm aufgepeitschten Ozean wird sie ebenso zu Gesicht bekommen wie die geruchs- und geräuschlose Stille der antarktischen Eiswüste.

Wehmut erfasst die blonde Studentin, als die "Polarstern" ablegt. Familie und Freunde, fester Boden unter den Füßen – alles Dinge, die jetzt weit entfernt sind. Über ihrer Koje hängt sie noch am selben Tag Bilder auf. Nicht nur Fotos, sondern auch Impressionen aus der Karibik. Die Sonne will sie mitnehmen ins ewige Eis.

Einblicke in die Akribie der wissenschaftlichen Arbeit

Alles erscheint ihr fremd und ungewohnt auf dem Schiff. Was Achtern oder Bug ist, weiß sie nicht. Genauso wenig, wo sie sich gerade befindet, denn die Decks sehen alle gleich aus.  "Ich hab’ mich nur verlaufen", erinnert sich die blonde Studentin an die ersten Tage der Expedition und rollt bei dem Gedanken genervt mit den Augen. Nach und nach erobert sie sich "ihr" Schiff. Der Windenleitstand, die Kommandostation für die Minikräne, wird zu ihrem Lieblingsplatz. Wenn sie beim Arbeiten aufblickt, liegt vor ihr die unendliche Weite des antarktischen Meeres. "Mein Wellenkino", nennt sie den Ort fast liebevoll.

 Muz 703 Schelfeis 

Verloren im ewigen Eis kam sich Katharina Muhle auf dem Schelfeis vor. An seiner Kante entlang setzte sie Sensoren zur Messung von Meeresdaten aus.   

 
Die Mission der 26-Jährigen steht fest: Gemeinsam mit Ozeanograph Olaf Klatt soll sie entlang der antarktischen Schelfeiskante sechzehn so genannte "Floats" aussetzen. Im Rahmen des internationalen Argo-Projektes werden mit den torpedoähnlichen Driftkörpern weltweit Daten über den Ozean gewonnen. Ausgestattet mit Sensoren, tauchen die Floats auf 2000 Meter Tiefe ab, um dann beim Aufstieg rund siebzig Mal Temperatur, Druck und Leitfähigkeit des Wassers zu berechnen. Die Daten gehen etwa in die Berechnung von Klimamodellen ein. "Ich will in meiner Examensarbeit zeigen, warum es sinnvoll ist, Ozeane flächendeckend zu beobachten." Wie die Daten der 3000 Driftkörper auf allen Weltmeeren archiviert und wie sie Wissenschaftlern zugänglich gemacht werden, ist dabei besonders wichtig für die angehende Lehrerin. Genauso wie Einblicke in die Akribie wissenschaftlichen Arbeitens: "Jeder Eimer Wasser, den die Forscher aus dem Meer schöpften, ist notiert worden – mit mitteleuropäischer Uhrzeit und Datum", erzählt sie schmunzelnd.

Paradox, denn Zeitlosigkeit wird schon bald zur einzigen Konstante. In der äußersten Südhemisphäre wirft das Schiff auch um Mitternacht noch lange Schatten über das Eis, manchmal dämmert es höchstens. Auf dem Weg vom westlichen amerikanischen Kontinent bis zur östlich gelegenen antarktischen Prydz-Bay durchquert die "Polarstern" sechs Zeitzonen. Damit die Besatzung wenigstens etwas Dämmerung zum Schlafen hat, stellen alle ihre Uhren vor. Irgendwann eilt die Bordzeit der eigentlichen Zeit um vier Stunden voraus. Niemanden stört es, denn Kontakt zur Außenwelt stellen die Reisenden nur per E-Mail her. Terminstress bleibt außen vor.

Mitunter geht die Orientierung verloren

Nach der Begegnung mit dem ersten Eisberg arbeitet sich das Schiff durch immer dicker werdendes Packeis. Katharina verbringt viel Zeit auf der Brücke, beobachtet, wie sich am Bug dunkles Wasser und dicke weiße Schollen brechen. Abends verleihen letzte Sonnenstrahlen den Eisbergen einen roséfarbenen Schimmer. An manchen Tagen  verkehrt sich oben nach unten – das Whiteout-Phänomen, bei dem Reflexionen zwischen Schnee und Eis am Boden und der Wolkendecke darüber dafür sorgen, dass sämtliche Orientierungspunkte verloren gehen.

Am 11. Februar kommt der Moment, auf den Katharina lange gewartet hat. Der Mummy-Chair, ein überdimensionierter Korb an einer Winde, hievt Crewmitglieder auf die weiße Fläche des permanenten Eises. Es sind nur wenige Grad unter Null. Trotzdem tragen alle ihre knallroten, mit dickem Teddyfell gefütterten Tempex-Anzüge, die vor dem schneidenden Wind schützen. Das Forschungsschiff erreicht die Schelfeiskante, die durch Gletscher mit dem Inlandeis der Antarktis verbunden ist. "Beim ersten Schritt auf das permanente Eis hat’s mir die Sprache verschlagen", sagt sie, die sonst um keinen Spruch verlegen ist. Der Moment übertrifft sämtliche Erwartungen. Immer wollte sie genau hierher, auf den einzigen Kontinent, den niemand bewohnt außer ein paar Wissenschaftlern. "Du bist draußen, so richtig draußen", versucht sie den wohl beeindruckendsten Augenblick der ganzen Reise in Worte zu fassen.

Katharina und Kollege Olaf setzen entlang der Schelfeiskante alle Floats aus und haben ihren Auftrag damit schnell erfüllt. Die anderen Forscherteams stecken noch bis zum Hals in Arbeit. Einige messen seismische Aktivitäten am Meeresboden vor, andere untersuchen mikrobiologische Lebensformen. Kölner Wissenschaftler heuern die beiden für ihre knapp dreiwöchige Arbeit auf den Rauer Inseln an. Katharina und Olaf sollen ihnen helfen, die Insel zu vermessen und Sedimentproben zu ziehen.

 Muz 703 Antarktis 

Nur knapp 14000 Kilometer bis nach Norddeutschland ist es von der Antarktis aus.

 
Als sie der Helikopter am 25. Februar samt Ausrüstung auf der Insel Filla abgesetzt hat, folgt der erste Schreck: Woher Wasser nehmen auf einer kargen Inselgruppe? Wegen starker Winde liegen weder Eis noch Schnee. Darauf hat sich die Gruppe aufgrund von Erfahrungsberichten anderer Wissenschaftler aber verlassen. Abhilfe schafft ein Berg paketgroßer Eisquader, die der Helikopter per Netz zur Insel fliegt. Neben dem knallroten Küchenzelt, der „Tomate“, liegen sie ungeschützt vor umherwirbelndem Sand und sehen nach ein paar Tagen wie dreckige Gesteinsbrocken aus. Drei Wochen braunes Wasser, Müsli mit Milchpulvermilch und Dosenbrot – Katharina nimmt’s gelassen: "Man hält viel aus, echt!"

Nichts wächst auf der Insel außer braun mäandernden Steinflechten. Rund um den Lagerplatz tummeln sich Tiere. Von nächtlichen Weddelrobben-Schnarchgeräuschen und gelegentlichem strengen Pinguin-Odeur abgesehen – eine geruchs- und geräuschlose Idylle.

Am 14. März geht es für das Team wieder zurück an Bord. Die "Polarstern" nimmt Kurs auf das südafrikanische Kapstadt und verlässt den antarktischen Sommer. Immer leichter gleitet der Eisbrecher durch das dünner werdende Packeis. Nur drei Tage später wissen alle, dass es ihr letzter Tag im Eis sein wird. Vier Stunden steht Katharina auf der Brücke und hält Ausschau nach den letzten Eisbergen. Als der letzte aus dem Blickfeld verschwunden ist, bleibt nur noch der Radar. Doch auch der Bildschirm ist leer.

Juliette Ritz