Noch geben sie die Hoffnung nicht auf
Die "eingemauerte Stadt" Qaliqilia beeindruckte Wenzel Stählin tief. Er erlebte die palästinensische Stadt wie ein Gefängnis. Fotos (3): privat |
"Im Heiligen Land herrscht so viel Feindseligkeit zwischen Palästinensern und Israelis. Trotzdem haben viele von ihnen die Hoffnung auf ein friedliches Miteinander nicht aufgegeben. Das bewegt mich sehr: der Mut und die Zivilcourage unserer jungen Gastgeber." Mit großen Augen erinnert sich Anil Kunnel, Student für Kommunikationswissenschaften, an seinen Besuch bei einem jungen Palästinenser in Hebron. Der 22-Jährige gehörte zu den acht literarischen Reisereportern, die für das Projekt "Reise nach Jerusalem" im März 2007 drei Wochen lang auf eigene Faust quer durch Israel und Palästina reisten. Vor kurzem kehrten sie zurück.
Ausgeheckt haben diese einmalige Aktion Carolin Wohlschlögel, Florentine Dame, Elisabeth Weydt und Lisa Winter, allesamt Studierende der WWU. Ihr Ziel: abseits sattsam bekannter Nachrichten-Bilder – Anschläge, Räumung, Ausgangssperren – ein eigenes, hautnahes Bild vom Alltag im Heiligen Land zu bekommen. Bundesweit castete das Studentinnen-Quartett junge Autoren und schickte sie sternenförmig auf die Reise nach Jerusalem. Auch das Organisations-Team aus Münster machte sich in den Nahen Osten auf und diente als SOS-Stationen und Koordinatoren. In so genannten Blogs teilten die Reisenden und die Mitglieder des Orga-Teams ihre Eindrücke via Internet zeitnah mit.
So traf etwa Politikstudent Florian Schwarz am Busterminal von Tel Aviv auf Noa, eine Ex-Geheimdienstlerin und jetzige Koordinatorin der Friedensinitiative "Peace Now". Sie rügte sein verbales Eintreten für Israel und forderte ihn auf, sich ein objektives Bild von den Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern zu machen. Gleichzeitig vermittelte sie ein Gespräch mit ihrem Freund Fadi in Ramallah. Doch die auf ihren Wehrdienst stolze Israelin reiste nicht mit: "They would shoot me over there." Genau diese Gespräche bewirkten bei Florian, "dass ständig Flugzeuge in meinem Bauch flogen".
Aufgenommen wie die eigenen Kinder
Ständig "Flugzeuge im Bauch" hatte Florian Grosser in der Stadt Hebron. In Haifa wurde er mit großer Gastfreundschaft aufgenommen. |
Spirituelle Ruhe tankten einige im kleinen Franziskaner-Kloster in Tabgha am See Genezareth auf. Die biblischen Ortsnamen rufen bei Kommunikationswissenschaftlerin Florentine Dame in Erinnerung, "dass dies nicht nur heiliges Land (und Zankapfel) für Muslime und Juden ist, sondern, dass auch das Christentum hier seine Wurzeln hat". Zu Anils schönsten Eindrücken gehört der Besuch von Hannah und Abraham, einem über 80-jährigen Ehepaar mit acht Kindern und 22 Enkelkindern: "Wir nahmen am Sabbat teil und genossen koscheres Essen, also viel Salat und Houmus. Aufgenommen wurde wir wie die eigenen Kinder – fantastisch." Ihre Herzlichkeit bewegte sehr, gerade auch weil sie an der Jaffa-Road wohnen, jener Straße, wo die meisten Anschläge in Jerusalem stattgefunden haben.
Der 22-jährige Münsteraner wunderte sich auch über die Natur, etwa in der Negev-Wüste: "Warum ist es hier nur so grün"“ fragte er sich ständig. Des Rätsels Lösung ist ein Naturschauspiel: Aufgrund starken Regens erblüht für einige Wochen alles, grünes Gras, Wiesenschaumkraut und Mohnblumen wachsen auf sonst verdorrten Hängen. "Wenn man aber sieht, dass Wasserquellen mit hohem Zaun und Stacheldraht geschützt sind, wird klar, wie wertvoll Wasser zu anderen Zeiten des Jahres in dieser Region ist", klärt Florentine auf. Die junge Studentin ist eine der vier engagierten Reise-Initiatorinnen aus Münster.
Gastfreundschaft trotz der Erinnerung an Raketen
Irritierend dann, als bei Spaziergängen in Tel Aviv immer wieder Ortskundige den Deutschen an Cafés fast beiläufig zuraunzen: "Hier starben vor einigen Jahren etliche Menschen." Dass die westlichen Reisenden vor Einkaufszentren und Supermärkten oft durch Sicherheitskontrollen mussten und Soldaten an den Stränden mit schussbereiten Maschinengewehren herumliefen, hatten sie dagegen bald intus. Weniger jedoch jene Eindrücke, die die Reiseteilnehmer Florian und Wenzel in Haifa bekamen. Dort trafen sie auf Menschen voller Gastfreundschaft, obwohl diese noch im vergangenen Sommer in ihren Schutzräumen saßen und inständig hofften, dass die Katjuscha-Raketen im Meer verglühen anstatt die Küste zu treffen.
Zu den großzügigen Gastgebern gehörte auch Yotam, Filmstudent aus Tel Aviv, den während einer Demo nur wenige Meter vom damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin trennten, als die Schüsse auf ihn fielen. Das erzählte er den Studierenden eher beiläufig – während einer Fahrt zum Strand vor blauem Himmel. "Da schluckt man tief", formuliert Elisabeth solche und andere Reiseeindrücke.
Auch, weil manche Dinge nicht ganz ungefährlich waren. So wohnte Anil etwa bei Fawah Abuaisheh in der jüdischen Siedlung innerhalb der palästinensischen Stadt Hebron. Diese wird von 3000 Soldaten bewacht zum Schutz der 450 jüdischen Siedler. Fawaz setzt sich mit Freunden dafür ein, den Schulweg junger Palästinenser, die auf dem Gebiet der jüdischen Siedler wohnen, zu schützen.
Knipste alles, was ihm vor die Linse kam: der münstersche Student Anil Kunnel in der Altstadt von Tel Aviv |
Die beiden Studenten Florian Grosser und Wenzel Stählin zählen ihren Besuch der Stadt Qaliqilia in der West Bank zu ihren eindringlichsten Erfahrungen. Dort lernten sie die junge engagierte palästinensische Friedensaktivistin Natasha Aruri kennen und erlebten die eingemauerte Stadt wie ein Gefängnis: "Palästinensische Einwohner siechen vor sich hin, die nicht nach Israel dürfen. Die ganze Infrastruktur bricht zusammen." Assoziationen zur Berliner Mauer kommen auf und ein "beißendes Gefühl von Ohnmacht". Die Mauer ist Teil einer gigantischen Befestigungsanlage, die bald alle palästinensischen Gebiete umschließen soll.
Germanistin Elisabeth Weydt kriegt selbst in Münster die Eindrücke aus den besetzten Gebieten nicht aus dem Kopf: "Es bleibt ein Gefühl der Beklemmung und der Ratlosigkeit – von wachsendem Siedlungsbau und einem Leben unter Besatzung." Florentine bewegt vor allem, "dass die Menschen im Heiligen Land sich – trotz der oft schier ausweglos wirkenden Situation – eine große Rationalität bewahrt haben". Sie suchten nach Lösungen und glaubten fest, welche zu finden – ohne die jeweils "andere Seite" zu verdammen.
Literaturwissenschaftlerin Simone Sofia Stirner hatte große Schwierigkeiten den Durchblick zu behalten – zu viele Geschichten von Israelis und Palästinensern: " Je mehr man zuhört, desto mehr spinnen sich von beiden Seiten Fäden von Wünschen und Forderungen. Doch keiner trifft den anderen, alle laufen aneinander vorbei." Zurück in Deutschland gilt es jetzt alles zu strukturieren. "Kein leichtes Unterfangen", gibt Elisabeth zu. Sie hat sich einen grippalen Infekt zugezogen: "Keiner hat damit gerechnet, dass es im März in Hebron schneit! Sonst herrschen da eher 20 Grad."
Die Reiseerlebnisse der "literarischen Autoren" sollen im Winter als 250 Seiten starkes Buch veröffentlicht werden. Ein Verlag wird noch gesucht. Die Lesereise wird, soviel ist schon jetzt klar, in Münster starten, nicht zuletzt weil auch die Stadt und die Evangelische Studierendengemeinde das Projekt unterstützen. Mit ganz vielen Erinnerungen an eine unvergessliche Zeit, die auch fotografisch dokumentiert werden.
Anil hat inzwischen sein Examen vor der Brust, kann aber noch gar nicht richtig abschalten und sich auf den Uni-Alltag einlassen, "so überwältigend sind die Eindrücke der Reise". Mit den anderen Studierenden teilt er die tiefe Gewissheit, dass es sich gelohnt hat, Israel und Palästina einmal mit eigenen Augen zu erkunden, um über den üblichen Tellerrand hinwegblicken und das eigene politische Bewusstsein erweitern zu können. Nicht ohne Grund haben fünf der literarischen Autoren die Reise freiwillig verlängert und machen gerade Urlaub im Heiligen Land, das sie scheinbar nicht loslässt.
Peter Sauer