"Helfen, ohne sich zu verbrennen"
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Immer ein offenes Ohr und eine offene Tür hatte Klaus Reichel für die Probleme seiner Kollegen. Foto: cr |
Fast 40 Jahre hat Reichel an der Universität Münster gearbeitet. Nach dem Abitur studierte er Physik und Geophysik, wollte eigentlich Atomphysiker werden. Doch die Berufsaussichten waren schlecht, also wurde es die Geophysik. Pünktlich zur Geburt seiner ersten Tochter hatte er das Diplom, baute das Rechenzentrum mit auf und mischte als Personalrat der wissenschaftlichen Beschäftigten mit. 1978 begann er mit einem Fernstudium der Theologie, wurde zum Diakon mit Zivilberuf geweiht und engagierte sich in der offenen Jugendarbeit. Gut zehn Jahre danach ließ er sich zum Betrieblichen Suchtkrankenhelfer ausbilden. "Wir waren damals die Versuchstierchen. Der Lehrgang war dringend notwendig. Nur so lernt man, nach einem bestimmten Schema vorzugehen. Etwa, dass die Dauer von Gesprächen genau festgelegt wird, wie Konflikte sachlich gelöst werden können, dass nur über konkrete Vorfälle und nicht über vermutete geredet wird. Diese Schnur gab mir Sicherheit. Ich konnte nachts immer schlafen. Ohne die notwendige Distanz hätte ich es bleiben lassen."
Nur selten wurde er emotional. Dann hat der kleine, freundliche Reichel streng durch seine Brillengläser geschaut und los gepoltert. "Ist mein Gegenüber uneinsichtig, werde ich sehr laut. Da ist es mir auch schon passiert, dass ich zu einem gesagt habe: ‚Komm, hier ist ne Pulle Schnaps!'" Reichel sitzt in seinem ehemaligen Büro in der Georgskommende, direkt hinter der Bediensteten-Kantine und zieht Bilanz. Die Sozial- und Suchtberatung der Universität hat sich etabliert. Ein treibender Moment war die Arbeitsgruppe, die Verwaltung hatte immer ein offenes Ohr. Arbeitgeber und Personalrat und die Sozial- und Suchtberatung haben immer gemeinsam an einem Strang gezogen, um Betroffene aus der Sackgasse zu holen.
90 Prozent der Klienten sind Männer, von zehn sind sechs Wissenschaftler, hat Reichel beobachtet. Hauptproblem ist der Alkohol, Drogen oder Tablettensüchtige gehörten bislang nicht zum Klientel. Er macht zwei gefährdete Gruppen fest: Ältere wissenschaftliche Mitarbeiter, die unterfordert sind, weil die jüngeren immer mehr zusätzliche Aufgaben übernehmen, und darauf mit Alkoholgenuss aus Langeweile reagieren, und die jüngeren, die überfordert sind, weil der Berg an Arbeit kaum zu bewältigen ist, und ihren Frust mit Alkohol hinunterspülen.
Die Suchtkrankenhilfe an der Universität setzt bei der Arbeit an. "Schaut hin, wenn ihr bemerkt, ein Kollege verändert sich, und kommt in die Suchtberatung." Reichel verhehlt nicht, dass er sich noch mehr wünschen würde, dass die Menschen Probleme ansprechen und helfen. Natürlich sei das nicht immer leicht. "Ich habe auch lange gebraucht, bis ich meiner Frau gebeichtet habe, dass ich die Uhr, die sie mir geschenkt hat, verschlampt habe. Aber es ist befreiend, wenn man offen damit umgeht. Und schlimm, wenn alle die Probleme sehen, und keiner was tut."
Nur selten saßen Klaus Reichel Betroffene direkt gegenüber. Oft war er Bindeglied, wurde auf dem Weg zur Kantine oder nach einem Vorstellungsgespräch vom Professor angesprochen, ob er einen Moment Zeit habe. Dann gab Reichel Tipps. Manchmal halfen Unterredungen, manchmal vermittelte Reichel an die Klinik, damit eine Diagnose gestellt werden konnte. Wenn nichts mehr nutzte, gab es die Kündigung. "Manchmal geht es nur mit Druck. Nach der dritten Abmahnung muss die Konsequenz folgen, sonst wird man unglaubwürdig."
Reichels größter Wunsch zum Abschied? Ein Nachfolger. "Diesen Job kann ich nur empfehlen. Helfen, ohne sich gefühlsmäßig zu verbrennen, das war immer reizvoll", sagt er. "Und ich habe viel gelernt. Was ich als Handwerkszeug bekommen habe, kann ich bei Konflikten jeglicher Art einsetzen." Als Privatmann wird er sich weiter für andere engagieren. "Für Jugendarbeit bin ich inzwischen zu alt, aber ich werde Kranke besuchen." Erst einmal fährt er mit seiner Frau aber nach Schweden, um sein im Juni geborenes Enkelkind in die Arme zu nehmen. Eine seiner drei Töchter lebt dort. Ihr hatte er als Jugendliche das Rauchen nicht verboten, sondern ihr eine Schachtel Zigaretten zu Weihnachten geschenkt. Sie hat sofort aufgehört zu rauchen.
cr