Spiel des Lebens
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Abgehoben sind die WWU-Fans nicht. Sie erwarten keine Wunder von der
deutschen Nationalmannschaft. Fotos (2): Peter Grewer |
Ähnlich geht es Christian Flaig, Mitarbeiter im Personaldezernat. Er genießt während des Spiels zwar völlig ungestört Schokolade und Pralinen, dafür muss er mit seinem Sohn, der Gummibärchen vertilgt, Diskussionen rund um den Spielverlauf führen. "Wir analysieren in der Halbzeitpause alle Torchancen mindestens ebenso fachmännisch wie Günther Netzer." Auf eine detaillierte Bewertung legt auch Haushaltsdezernent Karl-Heinz Sandknop allergrößten Wert und geht bei der Beurteilung des eigenen Know-Hows noch ein Stück weiter. "Ich gucke mit Freunden, wir sind Kenner der Szene! Sogar Klinsi könnte da noch etwas lernen." Der Trend zum gemeinschaftlichen Gucken der Spiele ist deutlich: Bei denen, die nur einen kleinen Fernseher haben, nicht ohne Hintergedanken. Christian Flaig bringt es auf den Punkt: "Ich schaue am liebsten bei dem, der den größten Bildschirm hat." Unfallchirurg Prof. Horst Rieger ist technisch gesehen ausgebufft: "Bei uns wird auf einer großen Leinwand mittels Beamer geguckt. So kommen auch die Zuschauer in der zweiten Reihe auf ihre Kosten." Klaus Anderbrügge, ehemaliger Kanzler der Uni, zieht sogar den Telefonstecker aus der Dose, bevor der Anpfiff durchs Wohnzimmer tönt. Zuvor hat er sich Butterbrote geschmiert: "Damit setze ich mich dann gemütlich in den Sessel." Beim ersten Spiel der Deutschen handelt es sich dabei vermutlich um einen Sessel in einem türkischen Hotelzimmer. "Viele Dienstreisen lassen sich eben nicht verschieben. Zum Glück gibt es keine Zeitverschiebung."
Was die kulinarischen Genüsse angeht, wird bevorzugt Kaltes oder Knabbergebäck gereicht: Von Chips über Schokolade bis zu sauren Heringen in der Lakritzvariante – auf dem Tisch landet, was schnell zu besorgen ist und keine Mühe macht. Von ländergerechten Häppchen – Tapas beim Spiel der Spanier, Spaghetti, wenn die Italiener kicken oder Sandwiches, wenn die Engländer ihren Auftritt haben – sind die deutschen WM-Fans weit entfernt. "Das Spiel steht im Vordergrund, man muss die ganze Sache möglichst sachlich angehen", findet Baudezernent Reinhard Greshake. Ganz locker nimmt’s Monika Carretero, Mitarbeiterin der Pressestelle. Sie ist stolze Besitzerin zweier Karten für ein Spiel im Westfalenstadion in Dortmund: Brasilien gegen Japan. "Da schlage ich mich auf die Seite der Brasilianer, eine entsprechende Fahne habe ich schon gekauft." Carretero, die mit einem Spanier verheiratet ist, macht sich ansonsten für die deutschen Kicker stark. Das bedeutet: Wenn Spanien gegen Deutschland antreten sollte, könnte es im Hause Carretero schwierig werden, denn dann gehen die Meinungen der Eheleute auseinander. Der Mann von Monika Carretero feuert Spanien an, sie selbst Deutschland. Um die Situation zu entschärfen, hat sie folgendes Rezept: "Wenn der Fernseher läuft, gehe ich dann einfach mal raus und lenke mich mit anderen Dingen ab."

Kein Gerangel gibt es bei der Frage, für wen man die Daumen drückt: Die
Deutschen sollen möglichst auch das Halbfinale überstehen.
Hoch gepokert und tatsächlich gewonnen
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Kein Gerangel gibt es bei der Frage, für wen man die Daumen drückt: Die
Deutschen sollen möglichst auch das Halbfinale überstehen. |
Während Monika Carretero in Dortmund ihre Brasilien-Fahne schwenkt, haben Christian Flaig und sein Sohn Junias zwei Karten für das Spiel Polen gegen Deutschland ergattert, ebenfalls im Westfalenstadion: "Wir haben hoch gepokert und gewonnen", sagt Flaig. Er und sein Sohn wollten unbedingt nach Dortmund, saßen aus diesem Grund stundenlang vor dem Computer, um an Karten zu kommen. "Spät abends habe ich in meine Mailbox geschaut, da war die Enttäuschung groß: noch nichts gekommen!" Dann der Aha-Effekt am nächsten Morgen: Bingo! Zwei Karten gehen an die Adresse der Flaigs, die Freude ist groß: "Wir fahren ganz gemütlich hin, das wird ein großer Spaß", sagt Flaig. Greshake hat sich bewusst gegen WM-Karten entschieden. Der Baudezernent ist ein kühler Rechner: Für 110 Euro pro Karte hätte er zum Spiel Schweden gegen Trinidad Tobago gehen können: "Das war mir definitiv zu teuer!"
Kartenpreise hin, sportliche Leistung her – Prof. Otmar Schober, Leiter der Klinik für Nuklearmedizin, gewinnt dem Fußball noch eine ganz andere Sichtweise ab: nämlich eine philosophische. "Fußball könnte man auch als Spiel des Lebens bezeichnen: Es ist zeitlich begrenzt, es gibt richtige und falsche Entscheidungen, das Spiel geht weiter, selbst wenn man protestiert, und jeder Spieler muss einmal mehr aufstehen als er hinfällt." Darin sieht Schober die Faszination des Fußballs: "Er spiegelt die Lebenswirklichkeit wieder." Allerdings hat Schober mit Blick auf die WM auch handfeste, weniger theoretische Schritte unternommen. In seinem Terminplaner sind alle Spiele der deutschen Mannschaft mit gelbem Textmarker markiert. Zwar bleibt die Arbeit in der Klinik Priorität, doch wenn sich die Chefarztvisite hier und da vielleicht etwas vorverlegen lässt, haben auch die Oberärzte nichts dagegen. Die schwärmen ebenfalls allesamt für den Sport, der demnächst die Welt bewegt.
Wie die WM für die Truppe rund um Trainer Klinsmann ausgeht, beurteilen die Fußballfans an der WWU weitest gehend einhellig: Die deutsche Mannschaft schafft die Vorrunde und scheitert im Viertelfinale, spätestens im Halbfinale. Gründe dafür sieht Reinhard Greshake vor allem in der viel zu späten Torwart-Entscheidung. "Die Wahl von Jens Lehmann hätte schon vor einem Jahr stattfinden müssen. Die Abwehr ist ein Hühnerhaufen, da wird es für den Torwart besonders schwierig." Wirtschaftsinformatiker Heinz-Lothar Grob urteilt: "Klinsmann soll seinem Stil treu bleiben und sich nicht von den Bayern reinreden lassen." Grob gehört übrigens zu den unverbesserlichen Optimisten unter den Fußball-Fans: Er sieht die Deutschen im Endspiel gegen die von vielen als Titelträger favorisierten Brasilianer.
Die Spieler von gestern sind Zuschauer geworden
Ist die WM gelaufen, hat das Fachsimpeln ein Ende und alle Fans wenden sich wieder den Bundesliga-Vereinen zu, für die ein jedes Fußballherz beständig schlägt. Heinz-Lothar Grob, Christian Flaig und Reinhard Greshake sind Schalke-04-Fans, zum Teil sogar Dauerkarteninhaber. In den meisten Fällen hat Begeisterung Familientradition. Christian Flaig fährt mit seinem Sohn Junias in die Arena auf Schalke, in der Professor Grob kürzlich noch mit seinem 94 Jahre alten Vater war. Übrigens sind alle WWUler, die sich mit Hingabe dem Fußball und allen seinen Facetten widmen, selbst sportlich veranlagt. Horst Rieger kam als Jugendlicher in 11,6 Sekunden über einhundert Meter und ließ als Rechtsaußen die meisten Spieler der gegnerischen Mannschaft stehen, Otmar Schober schnellte links außen nach vorne und schoss aus dieser Position Tore. Mittlerweile sind die Sportler langsamer geworden, die Disziplinen haben sich gewandelt. Schober bevorzugt Gymnastik unter Anleitung einer Physiotherapeutin, Horst Rieger kickt sonntags mit seinem Sohn aus purer Lust am Spiel. "Der Leistungsgedanke steht nicht mehr so im Vordergrund. Dafür reicht die Kondition auch nicht mehr", fasst Klaus Anderbrügge die Lage zusammen. Gleichwohl ist er einmal in der Woche beim 1. FC Samstag dabei, in dieser Hobby-Mannschaft gehört er seit 1962 zu den Urgesteinen. Damals verabschiedete er sich vom Handball, den er durchaus leistungsorientiert betrieb. Ebenso erging es Reinhard Greshake, der sich als Jugendlicher beim Fußball sämtliche Extremitäten brach, bis die Eltern dem Enthusiasmus ihres Sprösslings einen Riegel vorschoben: Fortan beschäftigte sich Greshake mit Leichtathletik, wo er es immerhin bis zur Landesspitze brachte. Sandknop verabschiedete sich schweren Herzens ganz vom Ballsport. "Mit meiner Arthritis bin ich auf dem Fahrrad besser aufgehoben." So suchen sich alle ehemaligen Sportskanonen ihre Nische. Was die WM angeht, stoßen sie in ein und dasselbe Horn: Die deutsche Mannschaft soll alles geben, Klinsmann ein guter Trainer sein und die Zuschauer zuhause oder im Stadion aus Leibeskräften brüllen: "Deutschland vor, noch ein Tor!"
Christiane Bernert