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Alles wie im Fernsehen, nur viel besser

Evolutionsbiologen forschten im Roten Meer


Die Faszination der geheimnisvollen Welt unter Wasser lernten Susanne Ranft und Jochen Becker in der Mangroven-Bucht kennen.

Fotos(6): Nils Anthes

Timo Schürg atmet regelmäßig und ruhig durch seinen Schnorchel ein und aus und treibt dabei schwerelos im salzigen Wasser des Roten Meeres. Sonnenstrahlen schimmern durch die von sanften Wellen bewegte Wasseroberfläche und unzählige bunte Fische tummeln sich um ihn herum im glasklaren Wasser. Mit einer Mischung aus wissenschaftlicher Neugier und fasziniertem Staunen beobachtet Timo seit einer Stunde eine unscheinbare Wurmschnecke, die mit ihrem Schleimnetz kleine Planktonpartikel aus dem Wasser filtert. Er will nämlich herausfinden, in welchem zeitlichen Abstand die in einer Wohnröhre lebende Schnecke ihr Netz auswirft und wieder einholt, um neue Erkenntnisse über die Konkurrenzsituation mehrerer Wurmschnecken bei der Nahrungsaufnahme zu gewinnen. Timo ist einer von 18 Studierenden der Abteilung Evolutionsbiologie des Instituts für Evolution und Ökologie der Tiere, die zur Mangrove Bay ans Rote Meer nach Ägypten gefahren sind, um in Eigenregie ein kleineres wissenschaftliches Forschungsprojekt durchzuführen.

Die Teilnehmer des Kurses "Ökologie der Korallenriffe", der bereits seit einigen Jahren angeboten wird, sind auch heute noch von der ungewöhnlichen Arbeitsumgebung restlos begeistert: "Das Rote Meer ist echt der Wahnsinn. Man springt rein, guckt nach unten und ist einfach überwältigt", schwärmt Daniela Tonn. Timo kann das nur bestätigen: "Ja, man sieht zuerst das Meer, das eigentlich wie jedes andere aussieht und denkt sich ,hmm, schön’. Aber dann setzt man die Taucherbrille auf und springt ins Wasser – Wahnsinn! Echt abgefahren! Man taucht wirklich in eine ganz andere Welt ein!"


Aus dem Meer in die glühend heiße Wüste. Beim Tagesmarsch erkundeten die Teilnehmer der Exkursion auch das Landesinnere

Aufgrund der vielen Eindrücke fiel allerdings auch die Entscheidung schwer, was nun im Einzelnen untersucht werden sollte. Denn schließlich war man nicht zum Sonnenbaden und Faulenzen dort, sondern sollte ausgehend von Beobachtungen eigene Fragestellungen erarbeiten und Hypothesen aufstellen, die es dann durch Experimente zu überprüfen galt. "Ich halte diese Methodik für extrem wichtig", meint Jan M. Büllesbach, "weil das eigene Projekt so zu einer Art geistigem Kind wird und nicht einfach nur eine monotone Wiederholung von Messungen ist. Man wird nach und nach zu einem kleinen Spezialisten auf dem eigenen Projekt-Gebiet." Dafür mussten allerdings erschwerte Bedingungen im improvisierten "Hotelzimmerlabor" in Kauf genommen werden – ohne Literaturrecherche, aufwändige Laborgerätschaften oder gar Internetanschluss. "Da passieren Sachen, an die man vorher gar nicht denkt", sagt Daniela. "In der Theorie ist alles ganz leicht, aber in der Praxis funktioniert vieles einfach nicht." Wie markiert man einen Seeigel? Oder wie kennzeichnet man die Höhlen eines Pistolenkrebses? Diese Probleme ließen sich nur mit viel Improvisation und Geduld lösen. "Das ist eben Forschung", weiß Jan den Problemen vor Ort noch etwas Gutes abzugewinnen. "Man kann direkt erleben, wie Wissenschaft funktioniert."


Nemo gefunden: der Rotmeer-Anemonenfisch (Amphiprion bicinctus)

Trotz einiger Unwägbarkeiten, anfänglicher Frustmomente und nicht zuletzt aufgrund der guten Anleitung durch die Betreuer Prof. Nico Michiels und Nils Anthes hatten letztlich jedoch alle Teilnehmer ein eigenes Projekt gefunden und waren mit vollem Elan bei der Sache. Tauchend, schnorchelnd oder auch am Strand forschten sie in den Bereichen „Leben in der Gruppe“, "Symbiosen", "tageszeitliche Aktivitätsmuster", "Partnerwahl" sowie "Konfliktvermeidung". So wurde beispielsweise untersucht, welche Auswirkungen das Gruppenleben der leuchtend orange-roten Juwelen-Fahnenbarsche auf Aspekte der Nahrungssuche und Feindvermeidung hat. Oder wie die erfolgreiche Symbiose verschiedener Meeresbewohner in Bezug auf Nahrungsversorgung, Schutz oder Tarnung funktioniert. Außerdem gewannen die Studierenden auch neue Erkenntnisse über Ruhe- und Aktivitätsphasen der emsigen Putzerfische oder über die Bedeutung von Schönheit und Symmetrie für die Partnerwahl bei Falterfischen. Mit ihrer Forschungsarbeit erregten die Evolutionsbiologen auch die Aufmerksamkeit der zahlreichen

Gehäuse der Erdbeerschnecke (Clanculus sp.) werden oft von Einsiedlerkrebsen bewohnt

Tauch- und Schnorchelgäste sowie der Betreiber der Taucheinrichtung vor Ort, so dass sie immer wieder gefragt wurden, was sie denn da machten. Anlässlich dieses offensichtlichen Interesses entschloss man sich kurzerhand, einen kleinen Vortragsabend in der wenig genutzten Hotelbar zu veranstalten, an dem die jungen Forscher den interessierten Laien jeweils eine Minute lang ihr Projekt in englischer Sprache vorstellten und mit ihnen diskutierten. Ein weiterer Bestandteil der "Öffentlichkeitsarbeit" war die Erstellung einer Karte der Bucht von Mangrove Bay mit Hilfe eines GPS-Empfängers, da die dortige Tauchbasis bis dahin nicht über eine brauchbare Karte ihrer Tauchgebiete verfügte. Die von den Studierenden erstellte Karte mit Tiefenlinien und Wegmarken soll dem nächsten Biologie-Kurs und den Tauchgästen die Orientierung im Gelände erleichtern.

Dass Feld- oder in dem Fall wohl besser Meeresforschung auch mit Gefahren verbunden sein kann, zeigt eine von den Teilnehmern erstellte "Verletzungs- und Unglücksliste", die von


Sticht sogar durch Handschuhe: der giftige Strahlenfeuerfisch (Pterois radiata)

Seekrankheit, Magen-Beschwerden, "Sprung in eine Koralle" und "auf der Toilette eingeschlossen" bis hin zur Feuerfisch-Verbrennung oder sogar zum Hundebiss reicht. Und der nächste Arzt ist wie der Supermarkt oder die Disco mindestens 30 Kilometer entfernt. Eigentlich gibt es in Mangrove Bay nicht viel mehr als ein Tauchhotel und eine Tauchbasis. Alles ist eben aufs Tauchen und Schnorcheln ausgerichtet. Dass es kein großartiges abendliches Unterhaltungsangebot gab, störte die 18 Studierenden allerdings herzlich wenig. "Tauchen und Schnorcheln ist ganz schön anstrengend", stellt Daniela fest. "Nach einem mehrstündigen Tauchgang ist man abends ziemlich k.o.. Es ist auch nicht gerade angenehm, wenn man nach mehreren Stunden im Wasser trotz Sonne und Neoprenanzugs zu zittern anfängt. Außerdem hat man Salz in den Haaren, Salz in der Nase, Salz in den Ohren – überall Salzwasser!"


Einzigartig elegant ist der Arabische Kaiserfisch (Pomacanthus maculosus)

Meist ging es daher nach einem ruhigen Abend im Hotel relativ früh ins Bett. Es gab aber auch Ausnahmen. "Das Nachttauchen war das größte Abenteuer. Das war wirklich spektakulär", schwärmt Timo heute noch. Mit Tauchutensilien und Lampen ausgerüstet ging es bei Neumond ins tiefschwarze Wasser. "Manchmal fühlt man sich ja tagsüber schon etwas mulmig, wenn man von so vielen Fischen umzingelt ist und immer mal wieder ein Riffhai oder Barracuda vorbei schwimmen könnte, obwohl die einem gar nichts tun. Aber wenn man dann nachts unter Wasser gerade mal den schwachen Lichtschein des Tauchpartners sieht, wird einem schon mal anders", gibt Daniela zu. Aber der Anblick friedlich mit offenen Augen schlafender Fische machte das flaue Gefühl schnell vergessen. Nachts ließen sich außerdem viele Meeresbewohner in voller Pracht bewundern, die man tagsüber nicht zu Gesicht bekam.

Letztlich haben alle Kursteilnehmer sowohl die nächtlichen Abenteuer als auch die gesamte ereignisreiche Forschungsreise gut überstanden und sind mit tollen Erfahrungen und neuen Erkenntnissen wohlbehalten nach Münster zurückgekehrt. Bereits im Vorfeld der Exkursion war überlegt worden, sich mit den gesammelten Forschungsberichten für den Unterwasserforschungspreis 2004/2005 zu bewerben, der erstmals vom Verband deutscher Sporttaucher (VDST) und dem Tauchmagazin „Unterwasser“ vergeben wurde. Mit ihrer Bewerbung "Korallenriff-Ökologie" konnte sich die Gruppe gegen ihre Mitbewerber durchsetzen und gewann den mit 3000 Euro dotierten Forschungspreis in der Kategorie "Meeresbiologie". "Wahrscheinlich haben die Methodik und das praxisorientierte Gesamtkonzept der Untersuchung die Jury überzeugt", meint Jan mit immer noch stolz geschwellter Brust. Sowohl die Preisverleihung auf der Messe "boot" in Düsseldorf als auch die restlichen Erlebnisse rund um die zweiwöchige Forschungsreise dürfte allen Teilnehmern noch einige Zeit in Erinnerung bleiben. "Unsere Erwartungen wurden weit übertroffen", bringt Daniela die vielfältigen Eindrücke unter Wasser auf den Punkt. "Alles war wie im Fernsehen – nur besser!"

Björn Greif