Beim ersten Mal ist alles anders

Aus dem Tagebuch einer Studienanfängerin

[Hörsaal]
Verloren im Hörsaal? Das gibt sich meist nach einiger Zeit, wenn man die Kommilitonen besser kennen gelernt hat.
Foto: mv   

Einen Platz im Wohnheim habe ich, den Studentenausweis auch. Die Miete zahlen die Eltern, der Rest muss dazu verdient werden. Das Vorlesungsverzeichnis habe ich in den vergangenen zwei Wochen auswendig gelernt. Die "Einführung in die metrische Analyse mittelhochdeutscher Texte (für Anfänger)" scheint mir trotz des Zusatzes noch zu hoch für mich. Also doch lieber die "Anfänge der Kunstballade" oder die "Politische Lyrik vom 18. bis zum 20. Jahrhundert"? Welches Seminar ist nur für welchen Schein relevant? Welche muss ich überhaupt machen? Wo, bitte, ist die Toilette?

Die Nacht vorm ersten Mal verbringe ich schlaflos. Zwar soll es morgen erst einmal mit der Orientierungswoche losgehen, doch schon bin ich von höhersemestrigen Freundinnen eingestimmt: "Gerade am Anfang solltest Du so viele Scheine wie nur möglich machen." "Lass es ruhig angehen. Bis Du den Uni-Betrieb kennst, dauert es eh' mindestens ein Jahr." "Nur Einführungskurse bringen nichts, trau Dich ruhig schon in ein Proseminar." "Und vergiss nicht, dass Du noch die Mensa-Card brauchst." Dazu kommen die unzähligen guten Ratschläge in gedruckter Form. ZSB, AStA, Erstsemester-Beilage - wer soll das alles lesen und nicht den Überblick verlieren?

Der Uni-Crashkurs, auch Orientierungswoche genannt, belegt wenigstens, dass es nicht mir allein so geht. Nach fünf Tagen weiß ich zumindest, in welchen Kneipen sich die Soziologen, Juristen oder Wiwis zu treffen pflegen. Aber die Theorie der hohen Kunst des Studierens muss sich erst einmal an der Realität messen lassen. Die achtseitige Literaturliste zum Proseminar "Frauen im mittelalterlichen Literaturbetrieb" sähe recht Vertrauen erweckend aus, gäbe es da nicht noch die Literaturlisten für die Einführungskurse, Tutorien und Vorlesungen ...

Nun, sage ich mir, die Frauen im mittelalterlichen Literaturbetrieb hatten es auch nicht leicht. Also suche ich morgens um neun Uhr einen Platz für mein Fahrrad vor dem Fürstenberghaus, suche den richtigen Eingang, suche den Seminarraum und in der Masse ein schon bekanntes Gesicht. Anscheinend aber haben sich meine Mitverschworenen aus der ersten Woche doch entschlossen, nach der Einführung ins Survivaltraining auszuspannen oder suchen noch nach einem Platz für die Leeze.

Des Dozenten harrend, der da bald kommen muss, schwirren mir die Wortfetzen um die Ohren: "Der hermeneutische Ansatz von Gadamer ist doch mit dem von Hildegard von Bingen nicht zu vergleichen" - "Die Relevanz der Synopse im metaphysischen Seins-Konstrukt eines Jean Paul" - "Komik, Humor und Witz" - "Dissonanz und Metapher sind in den Siedlungsstrukturen der Nomaden des Propädeutikums eindeutig nachzuweisen"! Himmel hilf, ich bin im falschen Seminar gelandet.

Mit beschwingtem Gang öffnet der Dozent die Tür. Sein Lächeln erstirbt, als er die Massen leistungswilliger Studenten vor sich sieht. Die Referatsthemen, die er dann routiniert vergibt, filtern allerdings knapp die Hälfte der Anwesenden aus. Ich mache mich ganz klein, um auch ja nichts von der Arbeit abzubekommen, doch eine freundliche Seele ("Erstie, was?") lädt mich ein, mich mit ihr zusammen an den Grundlagen der Poetologie unter besonderer Berücksichtigung des Kant'schen Ansatzes zu versuchen.

Die anschließende Vorlesung mit einer Einführung in die Illokutions-Logik nehme ich nur noch am Rande wahr. Wieder kann ich kaum die Hälfte der Begriffe ins Deutsche übersetzen, wieder überkommt mich der Zweifel, ob ich nicht doch lieber die mittlere Beamtenlaufbahn einschlagen sollte.

In der ULB verweigert der Rechner mein frisch erworbenes Passwort, bis ich nach 20 Minuten rausfinde, dass ich statt meiner Kennnummer mein Geburtsdatum eingeben muss. Die Bücher, die ich laut achtseitiger Literaturliste brauche, sind bereits ausgeliehen, in der Mensa lacht mich nur noch ein einsames Brötchen an. Mein Fahrrad hat einen Platten. Auf dem Weg nach Hause verirre ich mich in den unergründlichen Gassen von Münster. Jetzt nur noch schlafen und den Horror vergessen.

Beim Aufwachen fällt mein Blick auf die Magister-Urkunde an der gegenüberliegenden Wand. Die fünf Jahre an der Uni haben sich also doch gelohnt - aber noch einmal möchte ich den ersten Tag nicht erleben.

bn