Europa als „Bollwerk(er)“ denken: Konzeptuelle Abgrenzungen in den internationalen Beziehungen des 19. Jahrhunderts (1807-1856)
Die Metaphern von Barrieren, Bollwerken oder Pufferzonen sind entscheidend für unser Verständnis des Ansehens von Staaten in der internationalen Arena. Noch heute prägen solche Ausdrücke die Narrative über regionale oder globale Sicherheit. Angesichts der unprovozierten russischen Invasion im Jahr 2022 bezeichnen Präsident Wolodymyr Selenskyj und andere hochrangige ukrainische Offizielle die Ukraine als „Europas ‘Schutzschild’ gegen die russische Armee“. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen im Südchinesischen Meer wird Taiwan häufig als westliches „Bollwerk der demokratischen Nachhaltigkeit, Sicherheit und Prosperität“ gegen die wachsenden politischen Ambitionen der Volksrepublik China beschrieben. Afrikanische Länder in der Sahelzone, wie Mali, werden zunehmend als „Bollwerke“ angesehen, die die Bedrohung durch Terrorismus und organisierte Kriminalität von Europa fernhalten (remparts contre le terrorisme).
Doch die Tendenz, solch politisches Vokabular zu verwenden, hat historische Vorläufer. Die Bollwerk-Metapher bezieht sich historisch auf eine Region oder einen Staat, der als Schutzbarriere oder Festung für die breitere Staatengemeinschaft gegen äußere Bedrohungen dient. Im 19. Jahrhundert war das „Bollwerk Europas“ ein prominentes Beispiel für ein imaginiertes Grenzland, das als erste Verteidigungslinie gegen politisch und kulturell konstruierte „Außenseiter“ oder „Regelbrecher“ (wie das Russische Reich oder Frankreich) konzipiert wurde. Der symbolische Gehalt des Begriffs vermittelte eine Vorbestimmung bestimmter Territorien zum Schutz einer höheren Einheit – ganz Europa – in Übereinstimmung mit unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen. Insbesondere wurde die Bollwerk-Metapher genutzt, um die politische Relevanz aufstrebender, kleinerer, sich konsolidierender Staaten zu stärken, sei es durch diese Akteure selbst oder durch Großmächte, die ihre eigenen imperialen Bestrebungen absichern wollten. Meine Analyse hat bis dato mehrere ähnliche Fälle der Verwendung der Metapher im Europa des 19. Jahrhunderts aufgezeigt:
Das Großherzogtum Warschau (1807-1815): Die Vorstellung des wiederbelebten Polens als „Bollwerk“ [przedmurze] gegen Russland
Pläne deutscher und polnischer Revolutionäre, ein gemeinsames geopolitisches „Bollwerk“ gegen Russland zu schaffen (1848-1849)
„Südliche Niederlande“ im niederländischen politischen Diskurs als „voormuur“ gegen Frankreich (1830-1839)
Die britische Wahrnehmung des Osmanischen Reiches als „Bollwerk“ gegen Russland zu Beginn des Krimkriegs (1853)
Um die transnationale Perspektive auf diesen Begriff zu analysieren, werde ich folgende Frage stellen: Wie wurde das „Bollwerk Europas“ genutzt, um den jeweiligen Bedrohungen für die internationale Sicherheit zwischen 1807 und 1856 in verschiedenen nationalen Diskursen zu begegnen? Indem ich mich auf das politische Schrifttum, geografische Werke, diplomatische Korrespondenz und die Presse des 19. Jahrhunderts konzentriere, verfolgt diese Forschung den Gebrauch immaterieller Grenzen und deren essenzialisierende Unterscheidung zwischen Europa und Nicht-Europa, um eine bestimmte Sichtweise auf Machtverhältnisse voranzutreiben. Diese Phänomene können dementsprechend durch die Untersuchung von Worten, Normen und Kategorien in Bezug auf die internationale Sphäre erforscht werden, mit dem Ziel, einen Beitrag zum aufstrebenden Forschungsfeld der Begriffsgeschichte der Internationalen Beziehungen (CHOIR) zu leisten.