22./25. Juni 2011

Was kann Wissenschaftstheorie für die wissenschaftliche Praxis leisten?

Workshop des Zentrums für Wissenschaftstheorie im Juni 2011

Was kann Wissenschaftstheorie für die wissenschaftliche Praxis leisten? – Diese Frage stand im Mittelpunkt eines zweitägigen Workshops des Zentrums für Wissenschaftstheorie, der von Marius Backmann und Markus Seidel organisiert wurde. Am Mittwoch, dem 22. Juni 2011, und am Samstag, dem 25. Juni 2011, diskutierten etwa 40 Studierende und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete mögliche Antworten auf diese Frage, die einige Mitglieder des Zentrums in Vorträgen vorstellten.

Das Programm zum Workshop steht hier als PDF zum Herunterladen bereit.



M _nster Gro _
Prof. Dr. Gernot Münster (Physik) stellte mit seinem Vortrag die Frage "Helfen Popper, Kuhn et al. dem Physiker?"

Prof. Dr. Gernot Münster (Physik) gestand, dass ihm die Beschäftigung mit der Wissenschaftstheorie in erster Linie einfach immer Spaß gemacht habe. Über die Frage, was ihm diese Beschäftigung als Physiker nütze, habe er gar nicht weiter nachgedacht, bis ihm ein Kollege diese Frage vor einigen Jahren stellte. In den letzten Jahren sei ihm die Bedeutung der Wissenschaftstheorie für unterschiedliche Aspekte seines Fachgebiets immer deutlicher geworden: Die Auseinandersetzung mit wissenschaftstheoretischen Fragen spiele insbesondere für die Lehre in der Physik eine bedeutende Rolle. Sie führe zu einer Reflexion der eigenen Arbeitsweise und zu einem besseren Verständnis von Zusammenhängen und historischen Entwicklungen der Physik.

Weischer Gro _
Prof. Dr. Christoph Weicher sprach zum Thema "Soziologie – Wissenschaftstheoretische Diskurse und Probleme in einer multiparadigmatischen Disziplin"

Prof. Dr. Christoph Weischer (Soziologie) stellte in seinem Vortrag die vielfältigen wissenschaftstheoretischen Fragen in den Mittelpunkt, die sich aus der Perspektive der Soziologie, einer multiparadigmatischen Wissenschaft, ergeben. Innerdisziplinäre Konflikte, so Weischer, würden oftmals auf die wissenschaftstheoretische Meta-Ebene verschoben. Soziologen seien daher immer wieder mit einem Methodenstreit konfrontiert, für dessen Auflösung ein wissenschaftstheoretischer Blick über die eigenen Fächergrenzen hinweg hilfreich sein könne.

M _ller-funk Gro _
Prof. Dr. Ulrich Müller-Funk (Wirtschaftsinformatik) sprach über "Wissenschaftstheoretische Aspekte der Technologiegesellschaft und ihres Wandels"

Prof. Dr. Ulrich Müller-Funk (Wirtschaftsinformatik) wählte die Kritik an der mangelnden wissenschaftstheoretischen Reflexion der so genannten „Design Science“, einer insbesondere in den letzten Jahren sehr einflussreichen Auffassung bezüglich des Wissenschaftsstatus der Wirtschaftsinformatik, als Ausgangspunkt, um die Bedeutung der Wissenschaftstheorie für sein Fachgebiet aufzuzeigen. Vielen Konzepten und Modellen der Design Science fehle es an einer hinreichend reflexiven Begründung und Spezifizierung; eine Auseinandersetzung mit wissenschaftstheoretischen Debatten werde nur am Rande geführt und bleibe oft fruchtlos.

Schindler Gro _
Prof. Dr. Ralf Schindler (Mathematik) stellt mit seinem Vortrag die Frage "Braucht die Mathematik neue Axiome?"

Prof. Dr. Ralf Schindler (Mathematik) stellte in seinem Vortrag verschiedene Grundlagenkrisen der Mathematik in den Mittelpunkt und versuchte die Zuhörer davon zu überzeugen, dass die aktuelle Mathematik womöglich neue Axiome braucht. Wissenschaftstheoretische Fragen seien daher für Mathematiker und Logiker von zentraler Bedeutung. Allerdings sei ein interdisziplinärer Diskurs oft vor die Schwierigkeit gestellt, Grundlagenprobleme der Mathematik „Laien“ verständlich zu machen.

Schm _cker 2 Gro _
Prof. Dr. Reinold Schmücker (Philosophie) erläuterte in seinem Vortrag "Warum auch Kunst- und Kulturphilosophie Methodenbewusstsein brauchen"

Prof. Dr. Reinold Schmücker (Philosophie) stellte die These auf, dass die Kunstphilosophie und Ästhetik ein stärkeres Methodenbewusstsein braucht. Die Frage nach dem ontologischen Status von Kunstwerken stehe im Mittelpunkt der Kunstphilosophie und könne ohne die Bezugnahme auf wissenschaftstheoretische Debatten nicht angemessen beantwortet werden. Zu welchen Problemen eine fehlende Methodenreflexion führen kann, verdeutlichte Schmücker anhand einiger eindrücklicher Beispiele.

Hucklenbroich 2 Gro _
Prof. Dr. Dr. Peter Hucklenbroich sprach "Zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Praxis in der Medizin"

Auch Prof. Dr. Dr. Peter Hucklenbroich (Medizin/Philosophie) wies auf die fundamentale Bedeutung der Wissenschaftstheorie für die Wissenschaften im Allgemeinen sowie für die Medizin im Besonderen hin. Er verdeutlichte dies anhand eines historischen Abrisses der Entwicklung der Philosophie der Medizin und der in ihr behandelten Fragestellungen. Insbesondere die Etablierung der Medizingeschichte als Teildisziplin der Medizin und als unverzichtbarer Bestandteil des Medizinstudiums habe in den letzten Jahren zu einer intensiveren Beschäftigung von Medizinern mit Fragen der Wissenschaftstheorie geführt.

Freiburg Gro _
Dr. Manfred Freiburg (Biologie) sprach "Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in der Lehrerausbildung – eine Provokation zum Disput"

Dr. Manfred Freiburg (Biologie) betonte gemeinsam mit Dr. Jutta Rach und Oberstudienrätin Marilies Freiburg, dass sich insbesondere durch die Einführung der neuen Bachelorstudiengänge das Methodenbewusstsein der Biologiestudierenden deutlich verschlechtert habe. Durch Seminare zu provokativen Themen versuche er immer wieder, Studierende zur Auseinandersetzung mit Fragestellungen anzuregen, die über die Grenzen des fachspezifischen Laboralltages hinausführen, und sie auf diese Weise besonders zur Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen Fragen zu motivieren.

Publikum Gro _

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops stellten wiederholt fest, vor welche Schwierigkeiten ein interdisziplinärer Austausch sowie eine wissenschaftstheoretische Reflexion der Einzeldisziplinen gestellt ist, da Begriffe oft fachspezifisch unterschiedlich verwendet und fachinterne Debatten nur mit Mühe Außenstehenden verständlich gemacht werden können. Andererseits bietet gerade die wissenschaftstheoretische Reflexion die Möglichkeit, ebendiese Begrifflichkeiten zu überprüfen – der wissenschaftstheoretisch geschulte Blick eines informierten Nicht-Fachwissenschaftlers ermöglicht die kritische Auseinandersetzung mit vorausgesetzten Theoriewahlkriterien sowie ein erhöhtes Methodenbewusstsein, das speziell Studierenden vermittelt werden sollte. Darüber hinaus wurden durchaus gemeinsame Probleme und Fragestellungen deutlich, die nur in einem fächerübergreifenden Diskurs bearbeitet werden können. 

So konnten sich am Ende alle davon überzeugen, dass Wissenschaftstheorie nicht nur Spaß macht, sondern für die Einzelwissenschaften durchaus nützlich und wichtig ist.

Backmann Gro _
Marius Backmann (Organisation)
Seidel Gro _
Markus Seidel (Organisation)
Publikum 3 Gro _