Teilprojekt B4:
Die Darstellung der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen in deutscher didaktischer Literatur des Mittelalters
| Projektbeschreibung |
Das Projekt untersucht die Darstellung der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen in zentralen Texten und Textbereichen des 13., 14. und 15. Jahrhunderts. Im einzelnen geht es (a) um den 'Welschen Gast' des Thomasin von Zerklaere vom Anfang des 13. Jahrhunderts, eine Lebens- und Wissenslehre für den höfischen Adel; neben diesem Traktat, der der umfangreichste und wirkungsmächtigste didaktische Text des deutschen Hochmittelalters ist, werden weitere kleinere Texte adeliger Laiendidaxe dieser Zeit berücksichtigt; (b) um die Schachzabelbücher des frühen und mittleren 14. Jahrhunderts, den lateinischen 'Liber de moribus hominum' des Jacobus de Cessolis mit seinen zahlreichen mittelhochdeutschen Vers- und Prosaübersetzungen; und (c) um bürgerlich akzentuierte Didaxe des 15. Jahrhunderts, etwa die 'Ratsgedichte' des Johannes Rothe, das 'Boek van veleme rade' des Hermann Bote sowie weitere pragmatische Texte in städtischen Kontexten. Besonderes Interesse gewinnt die Untersuchung dadurch, daß alle in den Blick genommenen Texte normative Texte sind, die bis an das Ende des Mittelalters gelesen wurden. Weiterhin verbindet sie, daß sie das Zusammenleben von Menschen in dieser Welt im Blick haben, dabei aber verschieden weit ausgreifen (Thomasin stellt die höfische Gesellschaft ins Zentrum, die Schachbücher liefern ein symbolisches, ständisch ausdifferenziertes Modell der Gesamtgesellschaft, die bürgerliche Didaxe konzentriert sich vor allem auf das städtische Gemeinwesen). Dabei bedienen sie sich - in unterschiedlicher Intensität - der Mittel der Metaphorisierung und Allegorisierung, um gesellschaftliche Werte zu postulieren, zu deuten und zu komplexen Systemen zusammenzufügen. Viele der Texte sind illustriert, was zusätzliche Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Über die Illustrationen hinaus wird der Blick auf 'Realien' ausgeweitet (erhaltene Schachfiguren und -bretter).
Die bisherige Projektarbeit konzentrierte sich auf eine genaue inhaltliche Erschließung des äußerlich gesehen stark iterierenden und in den (für das Projekt relevanten) Einzelelementen fast ungegliedert wirkenden 'Welschen Gast' in Form einer Inhaltsübersicht, die es ermöglicht, die für das Projektthema wichtigen Informationen herauszufiltern. Für den Bereich der Schachliteratur stand eine systematische Erfassung der über 180 erhaltenen Textzeugen der lateinischen und deutschen Schachzabelliteratur im deutschen Sprachraum im Mittelpunkt. Sie dient als Grundlage für eine monographische Untersuchung der Kontinuität und Wandelbarkeit der verschiedenen Textfassungen und ihrer jeweiligen Rezeptionsweise; die Studie soll Aufschluß über die Wirkungstiefe der verwendeten Allegorien bei der Vermittlung des feudalen Wertekanons geben. Im Bereich der bürgerlichen Didaxe lag der Schwerpunkt auf der Ermittlung und Erschließung der einschlägigen Texte, die zu beträchtlichen Teilen ungedruckt sind; hier war bereits ein wichtiger Neufund (Weseler 'Spiegel des Rates') möglich, dessen Edition in Vorbereitung ist. Arbeitsbereichs- und teilprojektübergreifend wurde exemplarisch erprobt, inwieweit räumliche Dimensionen die Wahrnehmung der Gesellschaft lenken und ordnen. Gegenwärtig steht im Bereich der Erforschung der Adelsdidaxe eine Studie zu den Verhaltens- und Handlungsanweisungen im 'Welschen Gast' im Vordergrund, der eine textsoziologische Interpretation der Überlieferung des 'Welschen Gasts' und eine Untersuchung der kleineren Texte folgen wird. Im Themenfeld 'Schach' werden schwerpunktmäßig die Schachzabelbücher auf ihre in sehr großer Zahl auftretenden Exempla hin untersucht. Dabei liegt das Interesse auf einem Vergleich des Exempelbestandes in den verschiedenen Textfassungen, mit dem die verschiedenen Schachbearbeitungen in ihrer Varianz erschlossen und ihre möglichen Funktionswandlungen aufgedeckt werden sollen. Im Bereich der bürgerlichen Didaxe liegt der Fokus auf einer Untersuchung der 'Stadtregimentslehren' im weiteren Sinne (Sprüche, Gedichte, Inschriften). Darüber hinaus entsteht in Kooperation mit einer belgischen Wissenschaftlerin (Jacqueline van Leeuwen, Leuven) eine Übersicht volkssprachiger moralisierend-didaktischer Literatur über und für städtische Amtsträger aus Deutschland und den Niederlanden, die inhaltlich und textsoziologisch ausgewertet wird.
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