Eine Gesellschaft im Übergang von Planung zu Improvisation?
Uwe Schimank über Herausforderungen in komplexen Entscheidensprozessen
Hinter einer Fassade planvoller Aktivität regiert laut Uwe Schimank in Politik und Gesellschaft häufig die Improvisation. Im Sommersemester ist der Soziologe von der Universität Bremen als Fellow am SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ in Münster. Der Autor des Standardwerks „Die Entscheidungsgesellschaft“ arbeitet in dieser Zeit unter anderem an einem neuen Buchprojekt zum Thema „Coping“, eine bislang wenig erforschte Art, flexibel und improvisierend mit komplexen Entscheidensprozessen umzugehen. In einem Interview für die Website des SFB erläutert er, worum es dabei geht.
Sie haben den SFB 1150 im Sommer 2016 schon einmal als Gastwissenschaftler besucht. Was haben Sie sich für den aktuellen Gastaufenthalt in Münster vorgenommen?
Ich unterscheide in meiner Arbeit zwischen drei Familien von Entscheidenspraktiken: Erstens die Planung, zweitens den Inkrementalismus, also die Kunst des Sich-Durchwurstelns. Die dritte Familie, eine Art Sub-Inkrementalismus, mit viel geringerem Rationalitätsanspruch als die anderen beiden Arten, nenne ich „Coping“. Das meint die Frage, wie wir mit dem Entscheiden umgehen. Viele Teilprojekte des SFB 1150 sind erstaunlich nah daran, etwa wenn es um Entscheiden durch Verzögern und Hinausschieben geht, das dilatorische Entscheiden. Aus Sicht eines Historikers ist das sehr spannend. Das Thema möchte ich während meines Aufenthalts in Münster gerne systematisch und aus soziologischer Perspektive vertiefen und plane ein Buchprojekt dazu. Zum anderen habe ich für die nächste Förderphase des SFB eine Teilprojektskizze zum Thema Sub-Inkrementalismus eingereicht.
Was unterscheidet die soziologische Beschäftigung mit Entscheidungen von der Herangehensweise anderer Fachdisziplinen, etwa der historischen?
Einige der geschichtswissenschaftlichen Teilprojekte des SFB untersuchen schöne Fälle von „Coping“. Auch die philosophische, analytische Herangehensweise und die Methodik des „Cultural Turn“, die in der Ethnologie teilweise zum Einsatz kommt, finde ich sehr spannend, ebenso das literaturwissenschaftliche Projekt, das sich mit Entscheiden in Autobiographien beschäftigt. Das ist eine ganz andere Methodik, aber es ergänzt sich. Hier am SFB ist mir schnell klargeworden, dass wir jedoch vor allem eine Gemeinsamkeit haben. Uns interessieren weniger Entscheidungen, sondern Entscheiden als Prozess. Ich habe viel dazugelernt, besonders wenn es nicht nur um das „Wie“ von Entscheiden geht, sondern um die Semantiken und Narrative des Entscheidens, also um die Frage, warum etwas so oder so gemacht wird.
Können wir beim Entscheiden überhaupt jemals alle Informationen berücksichtigen?
Nein, manchmal geht es, im Sinne des geschilderten „Coping“, auch einfach nur darum, den Ball im Spiel zu halten. Wie beim Flippern. Wenn es einem nicht gelingt, die großen Punkte anzupeilen, ist es eine Strategie, auf Zeit zu spielen, in der erfahrungsgemäß durchaus berechtigten Hoffnung, dass irgendetwas Positives passiert. Dieses Muster beobachte ich oft bei Politikern, oder auch bei Lebensentscheidungen. Man weiß zwar nicht, wie es weitergeht, aber irgendwann ergibt sich eine Gelegenheit. Dann heißt es Zugreifen und Improvisieren. Die Gesellschaft ist heute derart komplex, dass vielleicht nur noch Coping möglich ist. Wir leben aber in einer Planungsgesellschaft. Also errichtet man eine Art Aktivitätsfassade, hinter der improvisiert wird.
Wie gehen wir damit um, wenn wir merken, dass Entscheider improvisieren?
Typischen Praktiken des Coping haftet immer der Hauch des Illegitimen an. Die Reaktionen sind oft missbilligend. Dann heißt es „So kann man doch mit einem wichtigen Thema nicht umgehen!“ oder „Hier erfüllt ein Entscheider seine Rolle nicht.“ Anstelle der Empörung kann man den Blick darauf richten, dass dilatorisches Entscheiden manchmal das Beste ist, was man machen kann. Stellen Sie sich einen Kaiser an einem frühneuzeitlichen Hof vor, der eine wichtige Entscheidung zu treffen hat. Der Ausgang der Sache ist ungewiss, der Herrscher selbst in ein Netz aus Beratern, Verpflichtungen, anderen Machthabern und Interessensvertretern eingewoben. Da liegt es doch nahe, die Entscheidung immer wieder, teils unter Vorwänden, zu vertagen, um das diffizile Gleichgewicht der Kräfte nicht zu riskieren. Ein zweites Beispiel: Politiker haben in bestimmten Situationen kaum eine Chance, eine bestimmte Art von Arbeitslosigkeit zu verhindern. Wenn jedoch ein Arbeitsminister dies vor der Presse laut aussprechen würde – dessen Tage im Amt wären gezählt. Wir stellen sehr hohe Ansprüche an die Politik, die als Reaktion darauf eine Fassade von Scheinaktivität aufbaut. Ärzten bringen wir in der Regel weitaus mehr Vertrauen entgegen, obwohl es sowohl in der Politik als auch in der Medizin um existentielle Dinge geht. Die Aussage von Ärzten wird normalerweise irgendwann akzeptiert, selbst wenn sie nicht ermutigend ist, aber auch im positiven Sinne, wenn etwa ein Medikament helfen kann, obwohl es keine Wirkstoffe enthält. Der Placebo-Effekt ist ja gut belegt.
Ist rationales Entscheiden ein Ideal oder eine Fiktion?
Für mich selbst ist der Begriff „Rationalität“ noch zentral. Da werde ich mir wohl noch ein paar Argumente für den SFB einfallen lassen müssen. Was man braucht, ist schon ein Begriff für die Güte der Entscheidung. Nicht als Wissenschaftler, sondern weil diejenigen, die die Entscheidung treffen, sie für besser halten als andere Alternativen oder als Nicht-Entscheiden. Routiniertes Handeln spart ja viel Zeit. Aber sobald die Routine irritiert wird, schalten wir in den Entscheidungsmodus um. Das fängt bei Kleinigkeiten an. Sie gehen immer denselben Weg zur Arbeit, dort ist jedoch eines Tages eine neue Unterführung. Eine neue Chance erschüttert die Routine. Da wären wir ja dumm, nicht zu reagieren und auf die Abkürzung zu verzichten. Wenn jemand in solchen Fällen auf den Entscheidungsmodus umstellt, würde ich denken, dass der Rationalitätsbegriff dafür noch taugt.
Entscheidet unsere demokratische Gesellschaft in diesem Sinne (meistens) richtig?
Die prozeduale Rationalität ist schon gestiegen. Entscheidensverfahren folgen meistens einer durchaus bewährten Logik. Zum Beispiel habe ich bei Berufungsverfahren an Universitäten die Erfahrung gemacht, dass in der letzten Zeit eine gewisse Versachlichung durch neue Verfahrensweisen stattgefunden hat. So war es noch vor einigen Jahren gang und gäbe, den Mitgliedern von Berufungskommissionen die vollständigen Unterlagen aller Bewerber auf Papier zukommen zu lassen. Noch vor der ersten Sitzung! Da besteht doch die Gefahr, dass man sich bereits Lieblingskandidaten aussucht, bevor man überhaupt die wichtigsten Kriterien für die Auswahl festgelegt hat, und dass die später festgelegten Kriterien dann genau davon beeinflusst werden. In den letzten Jahren habe ich in den Kommissionen erlebt, dass man die Informationen erst erhält, nachdem alle Kriterien feststehen. Das ist eine kleine Sache, die an dieser Stelle verfahrensförmig rationaler gestaltet ist.
Gerade fand in Münster der „March for Science“ statt, der sich vor allem gegen so genannte „alternative Fakten“ wendet. Im März haben Sie zusammen mit Ulrich Pfister einen SFB-Workshop zum Thema Lebensentscheidungen organisiert. Kann Wissenschaft die Qualität von Entscheiden verbessern helfen?
Ein Rezeptwissen für Entscheidungen können wir natürlich nicht liefern. Wir können aber einer Öffentlichkeit oder Entscheidern durchaus Orientierungswissen geben. Das kann schon damit anfangen, dass man Politiker „beruhigt“, wenn sie auf der Suche nach der richtigen Entscheidung verzweifeln. Das ist natürlich schillernd, kann aber in bestimmten Situationen helfen. Zusammen mit Helene Basu und André Krischer plane ich im Juni einen weiteren Workshop am SFB, der sich unter anderem damit beschäftigt, ob und wie die Regeln der westlichen „financial literacy“ sich so an Laien in der indischen Mittelschicht vermitteln lassen, dass diese in Eigenregie Gewinne an der Börse erwirtschaften können. Hinter dieser gut gemeinten Absicht des Staats, ein solches Expertenwissen in die Gesellschaft zu tragen, steht jedoch die naive Erwartung der Akteure, die Empfehlungen würden sofort eins zu eins umgesetzt.
Entscheiden Sie selbst im Alltag anders, seit Sie sich mit dem Thema beschäftigen?
Nur weil man über Entscheiden forscht, ist man nicht automatisch ein guter Entscheider. Mir fallen aber schon mehr Entscheidensaspekte im Alltag auf, etwa wenn ich Italienisch essen gehe und zwischen Pasta, Pizza und Risotto wähle. Meine Erfahrungs-Präferenzordnung würde mir sagen, dass ich mich in sechs von zehn Fällen für ein Nudelgericht entscheide. Wenn ich aber eine Strichliste darüber führen würde, was ich dann tatsächlich bestelle, liefe es vermutlich auf neun von zehn Fällen hinaus.
Der zehnte Fall wäre …?
Risotto.
Uwe Schimank hat sein Büro in Münster im Raum 118 am Domplatz 6 und freut sich über Besuch. Kontakt: uwe.schimank@uni-bremen.de