„Entscheiden ist eine Zumutung“
Auftakt zur Ringvorlesung mit Barbara Stollberg-Rilinger und Detlef Pollack
Mit einer Einführung in das Thema „Religion und Entscheiden“ haben die Frühneuzeit-Historikerin Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger und der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack die gleichnamige Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Kulturen des Entscheidens“ der Universität Münster eröffnet. Der Vortrag schlug einen Bogen von der Bedeutung des Begriffs „Entscheiden“ über das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Entscheiden bis zu der Frage, ob sich die Kultur des religiösen Entscheidens von der Vormoderne zur Moderne geändert hat. Die öffentliche Ringvorlesung befasst sich im Wintersemester anhand zahlreicher Fallbeispiele mit der Frage, wie von der Antike bis heute in Judentum, Christentum und Islam über Religiöses entschieden wird und wer dies in welcher Weise tun darf.
Das „Entscheiden“ wird am Sonderforschungsbereich als eine soziale Praxis verstanden, die darin besteht, ausdrücklich alternative Handlungsoptionen zu entwickeln und sich auf eine davon festzulegen. Eine Entscheidung ist immer kontingent und rational nie vollständig ableitbar, das heißt, man könnte immer auch anders entscheiden, wie die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger erläuterte. Religiöses Entscheiden sei nichts Selbstverständliches oder Alltägliches, da religiöse Wahrheiten und Normen in der Regel als unverfügbar gelten. „Entscheiden über religiöse Gegenstände ist insofern eine noch größere Zumutung, als Entscheiden es generell schon ist.“ In der Geschichte von Religionen sei zu beobachten, dass alternative Entscheidungsmöglichkeiten im Nachhinein „verschleiert“ und die Entscheidungen einer transzendenten Instanz zugeschrieben würden. „Die Konflikte etwa, die einer Papstwahl im Konklave vorangingen, wurden nach der Wahl zum Verschwinden gebracht; nach außen erschien das Ergebnis als Wirken des Heiligen Geistes.“
„Christentum ist besonders entscheidungsfreudig“
Der Religionssoziologe Detlef Pollack fügte eine Unterscheidung zwischen Entscheidungs- und Gewohnheitsreligionen hinzu. So zeige sich das Christentum im Gegensatz zu anderen Religionen seit seinem Beginn „besonders entscheidungsaffin“. Die Zugehörigkeit zum Christentum beruhe auf der individuellen Entscheidung für diesen Glauben, nicht auf einer sozialen Gewohnheit. Vielmehr gehöre es zum Kern christlichen Glaubens, soziale Differenzen immer wieder zu relativieren. In anderen Religionen, etwa in National- oder Volksreligionen, sei viel stärker eine „Ambiguitätsindifferenz“ zu beobachten, bei der weltanschauliche Unterschiede nebeneinander bestehen blieben, ohne dass die Religionsgemeinschaft sie auflösen wollte. „Das Christentum hingegen drängt auf Entscheidung.“ Heute habe sich das Christentum in Westeuropa aber mehr und mehr „von einer Entscheidungsreligion zu einer Gewohnheitsreligion“ gewandelt. „Es gibt wenige entschiedene Christen. Viele Gläubige pflegen ein konventionelles Verhältnis zum Christentum.“ Viele erklären, sie seien in der Kirche, weil ihre Eltern auch in der Kirche waren oder weil sich das so gehöre. Die Zahl der Engagierten sei klein und vermindere sich weiter.
Die Epoche der Moderne ist nach den Worten der Historikerin und des Religionssoziologen dadurch gekennzeichnet, dass weit mehr Dinge entschieden werden können, aber auch entschieden werden müssen als in der Vormoderne. Auch die Zahl individueller religiöser Entscheidungen sei angestiegen. Anders als oft angenommen, sei diese Entwicklung aber nicht auf die Reformation im 16. Jahrhundert zurückzuführen. Diese sei nicht „der erste Schritt in die Moderne“. Prof. Stollberg-Rilinger: „Die Reformationsbewegung verstand sich keineswegs als eine neue Option unter anderen, sondern als Rückkehr zur einzig wahren Lehre der Urkirche.“
Drei Idealtypen religiösen Entscheidens
Auch in der Aufklärung sei der Anspruch auf eine universell gültige Wahrheit noch nicht aufgegeben worden, so Prof. Pollack, vielmehr sei Religion durch Moral ersetzt worden. „Erst um 1800 kam es zum Verlust der Zentralperspektive. Durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilbereiche wie Recht, Politik, Wirtschaft und Religion wurden deren verschiedene Sichtweisen auf die Welt akzeptiert und auf die Behauptung einer allseits gültigen Wahrheit zunehmend verzichtet worden. „Die Vormoderne ist zwar durch eine hohe Ambiguitätsindifferenz in vielen Detailfragen geprägt, aber zugleich durch den Anspruch auf eine universelle Wahrheit“, so der Religionssoziologe. „Im Zeitalter der Moderne hingegen treffen wir zwar viele kleine Lebensentscheidungen, doch mit Blick auf Religion und Fragen nach der letzten Wahrheit können wir mit einem offenen Horizont leben.“ Detlef Pollack ist Sprecher des Exzellenzcluster, Barbara Stollberg-Rilinger ist stellvertretende Sprecherin sowie Vorstandsmitglied im SFB.
Die Historikerin unterschied drei Idealtypen religiösen Entscheidens: „Beim ‚Typ Gottesurteil‘, etwa bei der Wasserprobe in frühzeitlichen Hexenprozessen, wird die Entscheidung rituell so gerahmt, dass sie sich Gott selbst zuschreiben lässt.“ Beim Typus der „dogmatischen Wahrheitsentscheidung“ werden Entscheidungen, die in einem formalen Verfahren entstanden seien, einer transzendent legitimierten Autorität zugeschrieben; Heiligsprechungen sind dafür ein Beispiel. Als dritten Typ führte Prof. Stollberg-Rilinger den Typ Konversion an, die Entscheidung für einen anderen Glauben und den Wechsel in eine andere Glaubensgemeinschaft.
Religiöse Entscheidungen von der Antike bis heute
In der Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ spricht am Dienstag, 25. Oktober, der evangelische Theologe Prof. Dr. Reinhard Achenbach vom Exzellenzcluster über die politische Ethik des Alten Testaments. Der Vortrag lautet „,Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!‘ (Jesaja 7,9). Zum Dilemma verantwortlicher Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen Religion und Politik“. Die Ausführungen sind um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 zu hören. Es folgen Vorträge über juristische Entscheidungen im klassischen Islam, Hellseher am byzantinischen Kaiserhof und die Antworten jüdischer Gelehrter auf Glaubensfragen, „Responsa“ genannt. Hinzu kommen Beiträge über die mittelalterliche Inquisition, das Entscheiden des frühneuzeitlichen Papsttums sowie Dogma und Unfehlbarkeit in der Geschichte des kirchlichen Lehramts. Auch geht es um die Reformation in Westfalen, das Entscheiden aus Sicht der Spieltheorie, das religiöse Entscheiden in literarischen Texten und die Diagnose „Besessenheit“ durch zeitgenössische Exorzisten. (ska/vvm)