„Vielfalt der Religionen ist eine Herausforderung“
Politikwissenschaftler Ulrich Willems über religiöse Konflikte und Nachholbedarf in der Religionspolitik
Mit sendefähigen Hörfunk-Tönen
Die öffentliche Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ steht im Wintersemester unter der Überschrift „Religiöse Vielfalt. Eine Herausforderung für Politik, Religion und Gesellschaft“. Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems hat die Reihe für den Exzellenzcluster und das neue „Centrum für Religion und Moderne“ (CRM) organisiert. Im Gespräch mit dem Zentrum für Wissenschaftskommunikation erläutert der CRM-Sprecher, wie religiöse Konflikte entstehen und warum in der Religionspolitik Nachholbedarf besteht.
Herr Professor Willems, ist das Nebeneinander verschiedener Religionen in den heutigen aufgeklärten Gesellschaften Europas überhaupt noch ein Problem?
Religiöse Vielfalt bleibt eine Herausforderung in Europa. Sie hat in den westlichen Ländern stark zugenommen, weil nicht-christliche Minderheiten eingewandert sind, ebenso wie christliche Minderheiten aus Afrika und Nahost, und weil die Zahl der Konfessionslosen steigt. Viele religionspolitische Konflikte entstanden, weil die westliche Religionspolitik auf die hiesigen christlichen Großkirchen zugeschnitten war und sie in vielerlei Hinsicht immer noch bevorzugt. Zugleich benachteiligt sie Minderheitsreligionen wie den Islam.
In modernen Gesellschaften sind auch kaum noch Lebensbereiche übrig, die nicht politisch reguliert wären. Für Religionsgemeinschaften wird daher der Spielraum, in dem ihre Mitglieder Religion ohne politischen Einfluss leben können, immer enger. Das führt zu Konflikten wie diesen: Der Ruf des Muezzins in Moscheen kollidiert mit Lärmschutzverordnungen, das rituelle Schächten widerspricht Tierschutzregelungen, manche religiöse Geschlechterzuordnung widerspricht dem Gleichheitsprinzip für Mann und Frau. Mit Blick auf die Beschneidung von Jungen stellte sich jüngst die Frage, ob das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt wird.
Inwiefern werden die christlichen Kirchen in Deutschland bevorzugt?
Die Bevorzugung beruht auf verfassungsrechtlichen Regelungen und Verträgen, die die Kooperation zwischen Staat und Kirchen etwa beim Religionsunterricht regeln. Anderen Religionsgemeinschaften wie dem Islam fehlen für solche Regelungen Voraussetzungen, etwa die Mitgliederstruktur oder der einheitliche Ansprechpartner für den Staat. Sie kommen nicht in den Genuss vieler Vorteile. Das führt zur Asymmetrie. Die Zeugen Jehovas mussten lange klagen, um denselben Körperschaftsstatus wie die christlichen Kirchen zu erlangen. Die Muslime kämpfen seit den 1990er Jahren für eine Religionsfreiheit, die alle gleich behandelt. Das dauert viel zu lange. Erste Erfolge sind langsam zu erkennen: Hamburg hat als erstes Bundesland den Entwurf eines Vertrags mit den Muslimen vorgelegt. NRW hat islamischen Religionsunterricht als reguläres Fach eingeführt, das sonst fast überall als Modellversuch läuft. Bundesweit sind drei Zentren für Islamische Theologie wie hier an der Universität Münster entstanden.
Tut sich Deutschland besonders schwer mit der religiösen Pluralität?
Obwohl Deutschland keine so strenge Trennung von Staat und Kirche hat wie Frankreich, sondern eine kooperative Ausgestaltung der Religionspolitik, tun sich Politik und Gesellschaft schwer. Das liegt nicht nur an der genannten Schlagseite zugunsten der Kirchen, sondern auch an Politikern, die Deutschland lange nicht als Einwanderungsland ansehen wollten, in das Menschen mit anderen religiösen Traditionen kommen. So gab es nie eine Debatte zur Religionspolitik. Sie blieb Sache der Gerichte und politischen Eliten. Hier besteht viel Nachholbedarf. Denn die Bevölkerung blieb unvorbereitet. Wenn heute rechtliche Ausnahmen für religiöse Minderheiten gemacht werden, nehmen die Menschen dies fälschlicherweise so wahr, als müssten sie sich neu Hinzugekommenen anpassen. Hier fehlt es an Aufklärung. Das ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe, zugleich muss die Politik aktiv werden. Sinnvoll wäre eine Enquetekommission auf Bundes- oder Länderebene zu drängenden Fragen religiöser Pluralität in Deutschland. Auch sollten Vertreter von Religionsgemeinschaften und Menschen, die Religion skeptisch gegenüberstehen, öfter ins Gespräch kommen. Studien zeigen, dass Vorbehalte durch solche Gespräche abgebaut werden können.
Der Exzellenzcluster unterhält seit mehreren Jahren einen Forschungsschwerpunkt zur Integration religiöser Vielfalt. Zeichnen sich Lösungen zum Problem religiöser Vielfalt ab?
Die Wissenschaft kann keine Rezepte für den politischen Alltag liefern. Sie kann aber helfen, verfestigte Wahrnehmungsmuster aufzubrechen: So ist „der“ Islam in seiner Geschichte und Gegenwart wesentlich vielschichtiger als viele meinen, nicht anders als das Christentum. Die Wissenschaft kann auch unzutreffende Vorstellungen von religiöser Einheit wegschaffen: Das Mittelalter etwa war nie so homogen wie der aktuell oft verwendete Begriff „Christliches Abendland“ nahelegt. Schon damals war das Christentum in sich heterogen und definierte sich in Abgrenzung zum Islam. Unsere Reihe wird viele Beispiele religiöser Pluralität analysieren – von der Antike über das Mittelalter und die Frühneuzeit bis zu Deutschland, England, China und den USA heute. Die Modelle und Praktiken anderer Epochen und Kulturen können keine Blaupause, aber Anregungen für die Lösung heutiger Probleme geben.
Um welche Religionen wird es gehen?
Die Vorträge ermöglichen Vergleiche zwischen verschiedenen Religionen: Wie geht der zeitgenössische Islam mit religiöser Differenz um? Wie verarbeiten sie Buddhismus und Daoismus in China? Vor welche Herausforderungen sieht sich der Hinduismus gestellt? Wie reagieren die christlichen Konfessionen auf religiöse Vielfalt – theologisch, politisch und rechtlich? Welche Antworten geben das Rechtssystem und die Sozial- und Wirtschaftspolitik? Zu Wort kommen Religions-, Geschichts-, Islam- und Rechtswissenschaft, auch Theologie, Sinologie, Soziologie und Politikwissenschaft.
Warum sieht sich das Christentum durch die Pluralität herausgefordert?
Die großen Kirchen haben ihre Monopolstellung in Politik und Gesellschaft verloren. Sie müssen neue Wege finden, ihre Interessen zu kommunizieren und durchzusetzen. Die Pluralisierung und Individualisierung hat auch das christliche Leben erreicht: So glauben laut Umfragen immer mehr Christen in Deutschland an eine Wiedergeburt statt an eine Auferstehung nach dem Tod. Den Kirchen fällt es zunehmend schwer, ihre Lehre und Traditionen zu vermitteln, für die sie ja Wahrheitsansprüche vertreten. Auch die religiöse Erziehung nimmt angesichts der zunehmenden Religionsangebote ab: Eltern überlassen ihren Kindern die Entscheidung für einen bestimmten Glauben selbst. Während der Katholizismus sich in den 1960er Jahren auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit der Moderne und religiösen Vielfalt versöhnte, hat die Skepsis seitdem wieder zugenommen, wie in der Ringvorlesung zu hören sein wird.
Hinduismus und Buddhismus werden oft für besonders friedlich gehalten. Bieten sich hier Lösungen für ein friedliches Miteinander der verschiedenen Religionen?
Die Forschung zeigt, dass fernöstliche Religionen tatsächlich ganz anders mit Religionsvielfalt umgehen. Das zeigt sich etwa im Harmoniemodell in China, das ebenfalls in der Vorlesung zur Sprache kommt. Es geht davon aus, dass religiöse Traditionen sich gegenseitig ergänzen und voneinander lernen. Dafür steht auch das Symbol des Yin und Yang: zwei entgegengesetzte Prinzipien, die doch aufeinander bezogen sind. Zugleich sollte man die fernöstlichen Religionen nicht zu sehr idealisieren. Buddhistische Lehrmeister haben im 20. und 21. Jahrhundert Gewalt religiös gerechtfertigt, etwa in Konflikten in Indien oder Sri Lanka.
Überraschenderweise geht es in der Vorlesungsreihe auch um Esoterik und Astrologie.
Wir haben es hier nicht mit der Esoterik und Astrologie zu tun, die wir aus wissenschaftlich fragwürdigen Büchern und TV-Sendungen kennen. Vielmehr zeigt ein Blick in die europäische Religionsgeschichte, dass Esoterik und Astrologie seit der Antike dazugehörten. Sie stellten keinen Gegensatz zu den großen Religionen dar, sondern waren eher ein Bestandteil von ihnen, etwa der christlichen Mystik und jüdischen Kabbala. Die Forschung über Weisheitslehren und okkulte Wissenschaften, die die spirituelle Entwicklung des Individuums hervorhoben, ist noch jung. Auch darüber kann die Ringvorlesung allen Interessierten sicher spannende Einsichten bieten.
Interview: Viola van Melis und Hanno Schiffer
Hinweis: Sendefähige O-Töne können bei Hanno Schiffer (Tel.: 0251/83-23376) angefragt werden und lassen sich hier anhören.