(D6) Buchzensur und Büchervernichtung im englischen Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit am Beispiel der Ketzerbewegung der Lollarden und der Reformation
Das Projekt D6 zur Buchzensur und Büchervernichtung im englischen Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit in der Clustersäule ‚Gewalt‘ hat die Formen, Funktionen und Wirkungen der gezielten Kontrolle der schriftlichen Kommunikation in der Auseinandersetzung um den ‚rechten Glauben‘ in England vom 14. bis zum 16. Jahrhundert am Beispiel der spätmittelalterlichen Ketzerbewegung der Lollarden im Gefolge vom John Wyclif sowie der englischen Reformation im Spannungsfeld von Religion und Politik untersucht. Angesichts der anglistisch-buchhistorischen Ausrichtung des Projekts ging es zum einen um die Untersuchung der Buchzensur in ihrer Auswirkung auf die Literaturvermittler, das heißt die Schreiber, Drucker, Verleger und Buchhändler, und zum anderen um die Untersuchung der möglichen Unterschiede in den Formen, der Reichweite und der Effektivität zensorischer Eingriffe in die literarische Kommunikation in einer Manuskriptkultur im Fall der Lollarden gegenüber einer voll etablierten Buchdruckkultur in der englischen Reformation. Bei der Entwicklung eines interpretatorischen Rahmens bildete insbesondere die auf England ausgerichtete normative Ebene einen Schwerpunkt, nicht zuletzt mit Blick auf die religiöse wie politische Legitimierung von Gewalt gegen Menschen und gegen Bücher.
Ausgehend von einer Datenbank zu Quellen der englischen Gesetzgebung, zu Fällen von Gewalt gegen Personen und Bücher sowie zu den von Zensurmaßnahmen betroffenen Texten wurden in vergleichenden Untersuchungen von ausgewählten ‚Gewaltfällen‘ detaillierte Einzelstudien erarbeitet. Diese stellten insbesondere die Unterschiede zwischen der Zensur in der (reinen) Manuskriptkultur der Lollarden und in der Buchdruckkultur der englischen Reformationszeit in Rechnung. Dabei zeigte die Buchdruckkultur des 16. Jahrhunderts aufgrund der Möglichkeit der alternativen Verbreitung von Informationen im Manuskript wie auch im gedruckten Buch ein hohes Maß an Komplexität in den Prozessen der literarischen Kommunikation im religiös-politischen Feld, deutlich etwa am Fall des Jesuiten Edmund Campion oder am Netzwerk um John Bolt Ende des 16. Jahrhunderts. Ebenso zeigte sich im Rahmen einer Typologie mit Blick auf die Motive der Vermittler bei den Drucker-Verlegern ein breites Feld von in verschiedenem Grad religiös motivierten hin zu rein am Profit orientierten Akteuren, sowie auch die Formen der Bestrafung im Rahmen von Zensurmaßnahmen ein breites Spektrum aufwiesen.
Darüber hinaus wurden Einzeluntersuchungen zu so genannten ‚bücherverbrennungslosen Zensurfällen‘ (Thomas Werner, 2007), das heißt zur Bücherverstümmelung und -beschädigung wie im Fall von Thomas Becket unter Heinrich VIII., durchgeführt. Diese Studie war mit einer deutlichen Verlagerung der Zensurproblematik auf die Ebene der privaten Lektüre und den am Einzelexemplar ablesbaren individuellen Leserreaktionen auf das königliche Zensurgebot verbunden, die im Kontext der konfessionellen Differenzierungsprozesse im 16. Jahrhundert interpretiert wurden. Ähnlich an der Rezeptionsseite hat Uta Schleiermacher angesetzt und im Rahmen Ihres Dissertationsprojekts über ‚Gefährliches Lesen – Buchzensur und Buchrezeption im Kontext religiöser und politischer Konflikte in der englischen Reformation‘ anhand von ausgewählten Fallstudien die Verschiebung in den Zensurversuchen von der Kontrolle der Buchproduzenten und Vertreiber hin zu der Kontrolle der Leser untersucht und mit Blick auf die immer schwierigere unmittelbare Kontrolle des Buchmarkts interpretiert. Eva Schaten hat sich dagegen in ihrem Dissertationsprojekt zu ‚The Supervision of Books in Late Medieval England – Strategies of Regulation and Suppression‘ auf die Verfahren der (spät-) mittelalterlichen Zensur konzentriert. Dabei stand die Lollardenbewegung, die vom ausgehenden 14. Jahrhundert an bis zur Reformation als Häresie bekämpft wurde, im Mittelpunkt. Mit Blick auf die Frage nach den verschiedenen Strategien der Kommunikationskontrolle im 14. und 15. Jahrhundert wurden auch die komplexe Vorgeschichte der Zensur in England vor John Wyclif sowie insbesondere die aus dem universitären Bereich stammenden Zensurmodelle einbezogen. Vor allem aber wurde ein breiteres, das heißt nicht nur religiöses Spektrum von Schriften bzw. Textgattungen (politische Texte, Zauberbücher usw.) ausgewertet, in deren Kontext die religiös motivierte (bzw. legitimierte) Zensur erst ihren spezifischen Stellenwert erhält.
Publikationen:
Projektleitung (Gabriele Müller-Oberhäuser)
- “A Valiant Jewish Commander”: Morells Libretto des Judas Maccabaeus im Kontext der englischen Literatur”, in: Gewalt - Bedrohung - Krieg. Georg Friederich Händels Judas Maccabaeus. Interdisziplinäre Studien, hrsg. von Dominik Höink und Jürgen Heidrich, Göttingen 2010, S. 55-84.
- „Wicked, Seditious and Traiterous Books.* Buchzensur im reformatorischen England im Spannungsfeld von Religion und Politik“, in: Zensur abweichender Meinungen durch Kirche und Staat, hrsg, vom Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte; Bd. 28/2009) Stuttgart 2011, S. 117-138.
- „The Press Ought to be Open to All”: Zensur in England im Zeitalter der Aufklärung, in: Inquisition und Buchzensur im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. von Hubert Wolf (Römische Inquisition und Indexkongregation; Bd. 16) Paderborn u.a. 2011, S. 111-144.
- Zum Druck angenommen: Wissenstransfer im frühen Buchdruck Englands am Beispiel der Reformation, in: Transfer von Expertenwissen, hrsg. von Udo Friedrich und Eva Schumann. Göttingen 2013
Eva Schaten:
- Die staatliche Steuerung von Feindbildern am Beispiel des Anti-Hispanismus im frühneuzeitlichen England, in: Von Ketzern und Terroristen. Interdisziplinäre Studien zur Konstruktion und Rezeption von Feindbildern. Hrsg. von Alfons Fürst et.al. Münster: Aschendorff 2012, S. 45-65.
- Tagungsbericht ‚Disziplinierung der Wahrnehmung in Mediengesellschaften von der Antike bis zur Gegenwart‘. 11.11.2010-13.11.2010, Münster, in: H-Soz-u-Kult, 07.01.2011.