(D2-5) Die Katholische Kirche zwischen Reform und Diktatur: Argentinien und Chile in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Die unterschiedliche Haltung der katholischen Landeskirchen gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in den letzten Diktaturen in Argentinien (1976-1983) und Chile (1973-1990) müssen zu einem großen Teil mit langfristig entwickelten, teilweise strukturellen Unterschieden zwischen den beiden Landeskirchen und ihrem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft erklärt werden. Während das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in beiden Ländern bereits untersucht wurde, gibt es keine vergleichenden Studien über die unterschiedliche Rezeption der Reformen besonders seit dem II. Vatikanischen Konzil durch kirchliche Akteure und daraus resultierende Institutionalisierungstendenzen neuer religiöser Sozialformen in den beiden Ländern. Dabei lassen sich einige der angestoßenen Veränderungen als „Säkularisierungstendenzen“ innerhalb des religiösen Feldes interpretieren. Die „Hinwendung zu den Armen“ führte dazu, dass viele Priester und Ordensleute sich in die Armenviertel begaben und dort teilweise weniger Gewicht auf die Seelsorge als auf Sozialarbeit legten. Die Bedeutung der Sozialpastoral wuchs in dieser Zeit ebenso wie die Zahl christlicher Basisgemeinden. Auch Befreiungstheologen bedienten sich für die Begründung ihrer Orientierung nicht allein theologischer sondern auch weltlicher Argumentationen. Sie griffen z.B. Erklärungen und Diskurse der Dependenztheorie auf. Dies wird besonders bei der Behandlung der Armut als Ausdruck von „struktureller Gewalt“ deutlich. Diese neuen Tendenzen führten zu Konflikten sowohl innerhalb der Kirche als auch zwischen kirchlichen Gruppen und Teilen der Gesellschaft. Dies lag nicht zuletzt daran, dass seit der kubanischen Revolution 1959 Forderungen nach sozialer Veränderung schnell in die Nähe des Sozialismus gerückt wurden und dies immer eine entweder positive oder negative Bewertung beinhaltete. Um die Reichweite des Wandels und der daraus hervorgehenden Konflikte in beiden Ländern zu untersuchen, sollen – den sich als fruchtbar erwiesenen Ansatz aus der ersten Projektphase aufgreifend – Priester, Ordenskleriker und auch katholische Laiengruppen in den Blick genommen werden. Zu fragen ist, wie sich einzelne Akteure zusammenschlossen, welche Organisationsformen sie fanden und wie sie in Konflikten mit dem generellen Streben nach kirchlicher Einheit umgingen. Neben einem Vergleich beider Länder ist es außerdem sinnvoll, nach konkreten Austauschprozessen zwischen den verschiedenen Ebenen der beiden Landeskirchen und gegenseitigen Beeinflussungen zu fragen.
Ein besseres Verständnis der unterschiedlichen religiösen Sozial- und Organisationsformen wird auch durch die Untersuchung der Gewalt- sowie der Menschenrechtsdiskurse in beiden Ländern möglich. Damit ist ein zweiter Strang des Projektes angesprochen, bei dem der Gewalt- und Menschenrechtsdiskurs von kirchlichen Akteuren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beleuchtet werden soll. Der Diskurs über Gewalt wurde nicht erst während der Militärdiktaturen relevant. Vielmehr erwiesen sich auch hier der Kalte Krieg und insbesondere die kubanische Revolution als zentrale Bezugspunkte für die Rede über die Notwendigkeit von Gewalt. Dabei reichte die Spannbreite des kirchlichen Gewaltdiskurses von einer Legitimierung der Gewalt im Sinne der Abwehr des Kommunismus und der möglichen Revolution bis hin zu einer Befürwortung der revolutionären Veränderung der sozialen Verhältnisse. Auch in der chilenischen und argentinischen Kirche wurde nicht nur über die Frage nach Legitimierung oder Delegitimierung von staatlicher Repression diskutiert, sondern das Problem einer möglicherweise christlich gerechtfertigten revolutionären (Gegen-)Gewalt thematisiert. Insbesondere seit dem II. Vatikanischen Konzil und dem Aufkommen der Befreiungstheologie ist also das Spektrum der Haltungen zur Gewalt innerhalb der lateinamerikanischen Kirche äußerst vielschichtig und verlangt deshalb eine differenzierte Analyse. Konkret muss dabei danach gefragt werden, welche kirchlichen Akteure zu welchem Zeitpunkt den Einsatz von Gewalt legitimierten oder ablehnten? Auf welche biblischen Texte oder kirchlichen Traditionen beriefen sich die Akteure? Welchen Einfluss hatte der jeweilige kirchliche Diskurs zur Gewalt in der argentinischen und chilenischen Gesellschaft?
Der Vergleich zwischen den beiden Ländern kann dazu dienen, dass die Gründe und Motive für eine unterschiedliche kirchliche Herangehensweise an das Thema Gewalt herausgearbeitet werden können, denn nicht nur während der Militärregime war die Haltung von Mitgliedern der einen universalen Kirche aus zwei unmittelbaren Nachbarländern unterschiedlich (so legitimierte die offizielle Haltung der argentinischen Kirche die Repression der Militärdiktatur, während sich die chilenischen Bischöfe zu einem Großteil der Gewalt des Pinochetregimes widersetzten). Auch in den Jahren davor bezogen sich kirchliche Akteure auf vielfältige Weise auf die Gewaltthematik, wobei insbesondere eine Untersuchung der katholischen Gewaltdiskurse während des sich christlich legitimierenden Militärregimes von Onganía in Argentinien (1966-1971) und der christdemokratischen Regierung in Chile (1964-1970) Aufschlüsse über die unterschiedliche Verschränkung von Religion und Politik in den beiden Gesellschaften geben sollte.
Das Projekt ist Teil der Arbeitsplattform F Transkulturelle Verflechtungen und der Koordinierten Projektgruppen Sozialformen des Religiösen in der Zweiten Moderne (seit den 1960er Jahren) und Legitimation und Delegitimation von Gewalt mittels Schrift und Tradition.