(D2-10) Gewalterfahrung und göttliche Rache. Religionsgeschichtliche und rezeptionshermeneutische Analysen alttestamentlicher Klagen

Klagetexte begegnen im Alten Testament in sehr verschiedenen Formen und mit ganz unterschiedlichen Inhalten. Für das Projekt sind besonders die Klagen des einzelnen Beters im Psalmenbuch und das Ijobbuch im Blick. Während die ältere Forschung diese Texte vor allem gattungsgeschichtlich bearbeitet hat, haben sich in jüngerer Vergangenheit andere, oft die Individualität der Texte stärker berücksichtigende Ansätze als fruchtbar erwiesen.

Gewalt- und Leiderfahrungen gehören untrennbar zur menschlichen Existenz und werden in biblischen Klagen in Auseinandersetzung mit Gott reflektiert und so religiös gedeutet. Im Fragehorizont von Religion und Politik sind diese Klagen deshalb besonders interessant, weil im Psalmenbuch nirgends so klar wie hier die politisch-soziale Situation des betenden Ich mit der religiösen Dimension der Gebetssprache verschränkt ist und weil Ijobs Klagen gerade auch in Auseinandersetzung mit den „Freunden“ sein religiös gedeutetes Leid in ausgesprochen „politischen“ Kategorien (z.B. Rechtsstreit, soziale Isolation, Gott als Feind) darstellen. Die Thematik der Gewalt kann in diesen Texten in ganz verschiedenen Dimensionen begegnen. Einerseits geht es um die Erfahrung von Leid, die als physische Gewalt von Menschen, die Folge von Flüchen oder auch als Gewalthandeln Gottes selbst – unter Umständen durch menschliche Agenten – gedeutet werden kann. Andererseits kann Gott im Sinne der Verteidigung und Vergeltung zu einem Gewalthandeln an menschlichen Feinden aufgefordert werden. Klagepsalmen und die Klagen des Ijob verweisen damit auf verschiedene Arten, Gott Gewalt zuzuschreiben, die religionsgeschichtlich zu differenzieren und in ihrer Eigenart ohne falsche Apologetik theologisch zu bearbeiten sind.

Sowohl die Psalmen als auch Ijob sind biblische Bücher, die zu allen Zeiten im Christentum intensiv rezipiert worden  sind. Für die Psalmen gilt das auch für das Judentum. Bereits in der ersten Projektphase hat sich gezeigt, dass etwa die kollektive Klage Ps 79 über die Vermittlung der Makkabäerbücher in einer religiösen Rhetorik der Gewalt integriert werden konnte, die im Kontext der Kreuzzüge sehr wirkungsvoll geworden ist. Vergleichbares ist von den hier behandelten Texten zu erwarten, deren Wirkungen im Judentum (Talmud, Midraschim, mittelalterliche Kommentare) und Christentum rezeptionshermeneutisch untersucht werden sollen.

Teilprojekt „‘Er starb und ging zu seinen Vorfahren heim‘ (Gen 25,8). Das Motiv der Wiedervereinigung mit Verwandten im Totenreich im Kontext antiker Jenseitsvorstellungen“ (Dissertationsprojekt von Nikita Artemov)

Von allen antiken Völkern hofften allein die alten Ägypter auf ein ‚Leben nach dem Tode‘, im antiken Griechenland entwickelten sich Jenseitshoffnungen erst ab dem 6. Jh. v. Chr. in pythagoreisch-orphischen Kreisen und im antiken Judentum erst in hellenistischer Zeit im Zusammenhang mit der Märtyrerideologie des Makkabäer-Aufstandes – so die gängige Forschungsmeinung. Ein Ziel des Projekts ist es, zu einem differenzierteren Bild altorientalischer und altmediterraner Jenseitsvorstellungen beizutragen, indem gezeigt wird, dass in beinahe allen Kulturen der Antike neben düsteren und trostlosen Unterweltsbildern die Vorstellung einer familiären Wiedervereinigung im Totenreich sich nachweisen lässt.  Die Untersuchung der entsprechenden Texte bzw. Textstellen vor dem Hintergrund der Jenseitsbilder, die in zeitnahen Quellen der gleichen Kultur zum Ausdruck kommen, führt zu wichtigen methodologischen und hermeneutischen Überlegungen, die folgendermaßen zusammengefasst werden können:  Während einzelne Texte bestimmte kontextbezogene Jenseitsbilder ausweisen (welche divergierend, widersprüchlich, interpretationsbedürftig und ambig sind), kann auf der Metaebene keine kohärente und im Rahmen der jeweiligen Kultur allgemeingültige ‚Jenseitsvorstellung‘ (re-)konstruiert werden.


Das Projekt ist Teil der Koordinierten Projektgruppe Legitimation und Delegitimation von Gewalt mittels Schrift und Tradition.