(C23) Religion in der verrechtlichten Gesellschaft. Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion in Deutschland im internationalen Vergleich
Die Geschichte der modernen Staatsgewalt ist eng mit dem Aufstieg des Rechts zum gesellschaftlichen ‚Leitsystem’ verknüpft. Das Recht spielte eine Schlüsselrolle beim Aufbau des staatlichen Gewaltmonopols; es ermöglichte den reglementierenden Zugriff auf Lebensbereiche, die der Kontrolle der vormodernen Staatsmacht entzogen waren. Auch die religiösen Lebenswelten wurden von dieser Entwicklung erfasst.
Im skizzierten Projekt werden die Folgen dieses Prozesses anhand ausgewählter jüngerer Rechtskonflikte um Religion und der öffentlichen Kontroversen, die diese begleiten, untersucht. Der Fokus der Untersuchung liegt auf Deutschland, doch werden die deutschen Fälle zur deutlicheren Profilierung in den internationalen Kontext (v.a. Frankreich) eingebettet.
Die Fragestellung ist eine religions-, keine rechtswissenschaftliche. In der Religionswissenschaft wurde das Themenfeld ‚Religion und Recht’ lange weitgehend vernachlässigt, findet jedoch neuerdings vermehrt Aufmerksamkeit. Dieser Interessenwandel hat maßgeblich mit der wachsenden öffentlichen Präsenz des Islam in westeuropäischen Staaten zu tun; durch diesen Wandel im religiösen Feld geraten die bestehenden religionsrechtlichen Konstellationen, die anderen religionskulturellen Konfliktgeschichten entsprungen sind, zunehmend unter Druck.
Ziel des Arbeitsvorhabens ist es jedoch nicht, die Anpassungsleistungen des Rechtssystems an den religionskulturellen Wandel zu untersuchen. Die Studie ist vielmehr (a) von der Annahme getragen, dass die Religionsrechtskonflikte im Kern gesellschaftliche Selbstverständigungsdebatten sind, in denen um die fundamentalen Leitideen der modernen gesellschaftlichen Ordnung gerungen wird: um Freiheit und Gleichheit. Rechtskonflikte um Religion sind demnach symbolische Konflikte. Weiterhin werden die rechtlichen Auseinandersetzungen um Religion und die diese begleitenden öffentlichen Kontroversen (b) als ‚Grenzarbeiten’ am religiösen Feld verstanden. Es wird untersucht, welche Vorstellungen von Religion, religiöser Lebensführung, Gemeinschaft etc. das Recht als gleichsam hintergründige Selbstverständlichkeiten transportiert und wie diese in den Streitigkeiten verändert werden. Dabei soll (c) herausgearbeitet werden, dass das Recht nicht nur eine regulative Instanz ist, sondern performatives Potential hat. So steckt das Religionsrecht das Spektrum der Möglichkeiten ab, Erfahrungen, Vorstellungen und Praktiken überhaupt als ‚religiöse’ zu deuten und gesellschaftlich zu institutionalisieren. Damit wirkt es auf die Selbstwahrnehmung Glaubender und ihre religiöse Lebensführung zurück. Es arbeitet wie eine Art diskursiver Filter: Denn Glaubende, die für ihr Recht auf Religionsfreiheit streiten, müssen ihre religiöse Überzeugung und Lebensführung in den diskursiven Rahmen des Religionsrechts reformulieren und legitimieren. So muss die muslimische Lehrerin, die für ihre Kopfbedeckung das Grundrecht auf Religionsfreiheit in Anspruch nimmt, diese Kopfbedeckung, die im islamischen Herkunftsmilieu i.d.R. keiner Begründung bedarf, als religiös motiviertes Zeichen und Ausdruck religiöser Freiheit ausweisen. Dieser diskursive Gestus aber bleibt ihrer religiösen Erfahrungswelt nicht äußerlich. Die zahlreichen jüngeren empirischen Studien über die biographischen Erzählungen junger Musliminnen lassen vielmehr den Schluss zu, dass sich mit diesem Gestus die strittige Praktik des Kopfbedeckens aus ihrem zumeist vorreflexiven vorgängigen Bedeutungskontext herauslöst und als Akt individueller Religionsfreiheit gedeutet wird. In diesem Sinne kann das Religionsrecht des modernen Verfassungsstaates mit seinem zentralen Element der Religionsfreiheit als eine Art ‚gouvernementale Technik’ im Sinne Michel Foucaults begriffen werden: als eine Technik der ‚Führung religiöser Lebensführung’.
Im Forschungsprogramm des Exzellenzclusters Religion und Politik liegt das skizzierte Projekt im Schnittfeld der Forschungsfelder ‚Normativität’ und ‚Integrative Verfahren’, ist jedoch auch anschlussfähig an das Feld ‚Inszenierung’ (Gerichte als ‚Bühnen’ religiöser Mobilisierung).