(C2-31) Zur Dynamik von Deinstitutionalisierung und Reinstitutionalisierung religiöser Praxis. Die ‚(Neuen) Geistlichen Gemeinschaften‘ im Spannungsfeld von kommunitärer Sehnsucht, individueller Frömmigkeit und kirchlicher Bindung
Dass kirchliche Bindungen seit den 1960er Jahren in Westeuropa stark und zunehmend rückläufig sind, ist empirisch vielfach belegt und in der religionssoziologischen Forschung unstrittig. Zu den Folgen dieser Entwicklung gehört seit den 1970er Jahren die Verschiebung der Aufmerksamkeit der gegenwartbezogenen Religionsforschung auf die mit der Entkirchlichung Hand in Hand gehenden Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung des Religiösen außerhalb der Kirchen. In den Fokus der kontrovers geführten Debatte um die religiöse Lage rückte seither die Frage, ob die Verluste der Religion auf kirchlicher Seite durch eine zunehmend individualisierte außerkirchliche Spiritualität sowie durch die wachsende Pluralität im religiösen Feld ausgeglichen würden, ob also Transformation des Religiösen der dominierende Trend sei oder doch Säkularisierung. Angesichts dieser Debattenlage gerieten wichtige Veränderungen, die sich seit den 1970er Jahren innerhalb der (unbestritten erodierenden) Kirchen auch in Europa vollzogen, kaum in den Blick. Zwar wurde der Wandel, den insbesondere die katholische Kirche im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils im Hinblick auf ihre Haltung zu Menschrechten und moderner Demokratie vollzog, religionssoziologisch gewürdigt; und auch die Rolle christlich motivierter politischer Protestbewegungen (Friedens- und Dritte-Welt-Bewegung, Umweltbewegung) fand Beachtung. Unzureichend wahrgenommen wurden aber die nicht unmittelbar politisch, sondern primär geistlich orientierten Vergemeinschaftungen innerhalb der Kirchen. In der katholischen Kirche hat das Zweite Vatikanum mit seiner theologischen Aufwertung der Laien Impulse für die Gründung solcher (im weiteren Sinne der charismatischen Bewegung zuzurechnenden) „Geistlichen Gemeinschaften“ gegeben; deren Wurzeln reichen jedoch zum Teil weiter ins frühe 20. Jahrhundert zurück. Zu den bekanntesten gehören auf katholischer Seite „Comunione e Liberazione“, die „Fokolar-Bewegung“ oder die (in sich in verschiedene „Werke“ und „Gemeinschaften“ untergliederte) „Charismatische Erneuerung“; für die evangelische Kirche sind etwa die Michaelsbruderschaft, die Communität Koinonia oder die Communität Casteller Ring zu nennen; unter den (heute) ökumenischen Gemeinschaften dürfte „Taizé“ die bekannteste sein.
Für die religionssoziologische Forschung interessant sind diese Gruppierungen unter anderem deshalb, weil sie zeigen, dass Prozesse der Deinstitutionalisierung (Entkirchlichung) verschränkt waren (und sind) mit Prozessen der Reinstitutionalisierung bzw. mit dem Aufbau neuer Sozialformen des Christlichen innerhalb der Kirchen, aber neben den etablierten kirchlichen Organisationseinheiten (Gemeinden, Diözesen/Landeskirchen, Orden, Klöster). Wichtig – und ein Unterscheidungsmerkmal etwa zur freikirchlichen pfingstlich-evangelikalen Bewegung, zu der die Grenzen hinsichtlich der Frömmigkeitsformen ansonsten oftmals fließend sind – ist, dass die „Geistlichen Gemeinschaften“ die „erodierende Gnadenanstalt“ (M. Ebertz) eben nicht verlassen, sondern sich im Gegenteil entschieden als Glieder ihrer jeweiligen Großkirche verstehen, innerhalb derer sie gemeinschaftliche Orte der spirituellen Vergewisserung im Blick auf eine im Glauben verankerte alltägliche individuelle Lebensführung sind.
In dem Projekt sollen die in Deutschland aktiven „Geistlichen Gemeinschaften“ innerhalb der katholischen und evangelischen Kirche zunächst erfasst werden. Näher untersucht werden soll sodann eine Auswahl, die das breite Spektrum der Gruppen (u.a. im Hinblick auf den von lokal bis international reichenden Aktionsradius, die spirituelle, soziale und politische Orientierung etc.) abdecken sollte. Untersucht werden sollen die ausgewählten Gemeinschaften im Hinblick auf:
- ihre interne Organisationsstruktur (einschl. Genderthematik und Frage des Verhältnisses von Laien und Pfarrern/Priestern)
- ihre Größe und die Entwicklung ihrer Mitgliederzahlen (einschließlich der Art ihrer Mitgliedergewinnung sowie der Frage, ob die Mitgliedschaft formalisiert ist),
- ihr Verhältnis zur jeweiligen „Mutterkirche“ (organisatorisch ebenso wie mit Blick auf die religiöse Praxis, u.a. auch die Inanspruchnahme und Mitgestaltung der jeweiligen sakramentalen „Angebote“),
- ihr jeweiliges Selbstverständnis als (neue) christliche Gemeinschaft im Verhältnis zur kirchlichen Tradition sowie zur individuellen Spiritualität und ihre daraus abgeleiteten Ansprüche an die religiöse Lebensführung ihrer Mitglieder,
- ihre Beziehung zu anderen „Geistlichen Gemeinschaften“ innerhalb der eigenen sowie der jeweils anderen Kirche sowie ihre Verbindung zu freikirchlichen charismatischen Bewegungen.
Das Projektthema verspricht Einsichten in die Entstehung kommunitär ausgerichteter Sozialformen des Christlichen aus dem Impuls passionierter Auseinandersetzung mit der kirchlichen Tradition und ihrer theologischen ebenso wie organisatorischen Gestalt. Organisatorisch verbleiben sie im Innern der Kirchen und scheinen so die die Troeltsche Trias von Kirche/Sekte/Mystik aufzubrechen bzw. Elemente aus allen dreien zu verbinden.