(C2-23) Topographie des Multireligiösen. Gemeindeausbau und neue Gotteshäuser in Großstädten des 19. und 20. Jahrhunderts
Der Prozess des rasanten Städtewachstums und die Etablierung von Urbanität als Lebensform im späten 19. Jahrhundert wurden vom Ausbau des Pfarrnetzes und dem Bau von Kirchengebäuden und Gemeindezentren begleitet – Großstadtwerdung und Pfarrei bzw. Kultusgemeinde waren eng miteinander verwoben. Das 19. Jahrhundert verzeichnet im Zuge der industriellen Revolution eine starke konfessionelle Durchmischung und eine Diversifizierung religiöser Angebote in Form von Minderheitskonfessionen, Freikirchen und, innerhalb der katholischen Kirche, einer Vielzahl von neuen Ordensgründungen. Hinzu kamen die jüdischen Kultusgemeinden, die – nach der Emanzipationsgesetzgebung – mit neuem Selbstbewusstsein in die öffentliche Wahrnehmung traten. Alle diese religiösen Gemeindeformen brachten neben den eigentlichen Sakralräumen mit ihren Pfarrhäusern, Gemeindesälen, Kleinkinderschulen (Kindergärten), Bibliotheken, konfessionellen Krankenhäusern und andere karitative Einrichtungen eine Vielzahl von Institutionen hervor.
Das Projekt untersucht den Zusammenhang zwischen Urbanisierung und Gemeindeausbau bis in die 1920er Jahre anhand der alten Reichstadt Dortmund, die in dieser Zeit einen gewaltigen Wachstumsimpuls erhielt und zur industriell geprägten Großstadt aufstieg. Unter besonderer Verwendung kartographischer Quellen und bauhistorischer Zeugnisse wird gefragt, inwiefern sich mit dem Kirchenbauboom dieser Zeit in den Vierteln neuartige religiöse Zentren herausbildeten, die als funktionale, optische und akustische Orientierungspunkte im Stadtraum fungierten und so Multireligiosität in der modernen Stadt erfahrbar machten.
Welche Konflikte zwischen alten und neuen Gemeinden sowie den Vertretern unterschiedlicher Konfessionen ergaben sich aus der räumlichen Koexistenz? Inwieweit wurde der Kirchenbau in die Stadtplanung einbezogen und wie gingen die Stadtplaner dabei mit der konfessionellen Vielfalt um? Welche Bedeutung hatten repräsentative Formen bei den neuen Pfarrkirchen und Gemeindebauten? Gibt es typologische Differenzierungen zwischen den Gemeindebauten in Arbeiterbezirken und bürgerlichen Quartieren?
Auf dieser Basis wird gefragt, wie religiöses Gemeindeleben in den Jahrzehnten um 1900 gestaltet wurde wie sich Vertreter unterschiedlicher Konfessionen und Religionen selbst und gegenseitig wahrnahmen und welche Formen von Koexistenz sich ergaben. Bestimmten Konflikt, Nicht-Zurkenntnisnahme oder ein beiderseitiges Arrangement der nur wenige Straßenzüge voneinander entfernten Parochien den Alltag von Pfarrer und Gemeinde?
Das in Kooperation mit dem Institut für vergleichende Städtegeschichte – IStG, Münster, durchgeführte Projekt erarbeitet in zwei Publikationen historisch-kartographische Grundlagen und auf deren Basis eine Serie von thematischen Karten zu Stadtentwicklung und Sakraltopographie mit erläuternden, interpretierenden Texten, die die Stadt als multireligiösen Handlungsraum konturieren.
Das Projekt ist Teil der Koordinierten Projektgruppe Umgang mit Multireligiosität.