(C16) Religiöse Pluralität und interreligiöse Transformationsprozesse im Pancasila-Staat: Islam und Christentum in Indonesien
Indonesien, das Land mit der zahlreichsten muslimischen Bevölkerung weltweit, gibt seit seiner Unabhängigkeit einer Pluralität von Religionen auf demokratischem Fundament Raum. Im Unterschied zu anderen mehrheitlich muslimischen Ländern hat der Islam in Indonesien der Verfassung nach keinen Vorrang vor den anderen staatlich anerkannten Weltreligionen. Und im Unterschied zu europäischen Kontexten ist die indonesische Gesellschaft im wesentlichen als eine religiöse zu beschreiben. Dies wird in vielen Vollzügen im öffentlichen Leben sichtbar und entspricht dem eigenen Selbstverständnis der indonesischen Gesellschaft.
Die Pancasila in der Präambel der indonesischen Verfassung ist die weltanschauliche Grundlage für das Nebeneinander mehrerer großer Weltreligionen in Indonesien. Die erste der fünf Säulen der Pancasila: „Ketuhanan Yang Maha Esa“ (Glaube an die All-Eine Göttlichkeit) gilt als integratives Denkmodell einer pluralen Gesellschaft, die sich selbst als eine religiöse versteht. Damit versucht das indonesische Modell, religiöse Pluralität in Staat und Gesellschaft weder durch weltanschauliche Neutralität noch durch allein formale politische Verfahren zu integrieren, sondern durch einen religiösen Bezugspunkt, der jedoch die konkreten Religionen übersteigt.
Die Untersuchung der Implikationen und Konsequenzen dieses Modells aus einem außereuropäischen Kontext würde zu Forschungsfeld C des Exzellenzclusters „Integrative Verfahren“ beitragen. Das Forschungsprojekt soll die Auswirkungen dieses Modells auf Religion und Politik in der indonesischen Gesellschaft untersuchen. Aus Sicht der europäischen Diskussionslage ist das indonesische Modell von besonderem Interesse, weil es religiöse Pluralität anders strukturiert und integriert als es in der europäischen Moderne üblich ist. Für die europäische Diskussionslage mag es zudem hilfreich sein, einen Blick auf eine Verhältnisbestimmung von Religion und Politik zu werfen, die unter den Vorzeichen einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft steht, jedoch den verbreiteten Vorurteilen nicht entspricht.
Das Forschungsprojekt zielt darauf, drei Dimensionen des indonesischen Integrationsmodells zu analysieren:
- Es soll erstens untersucht werden, welche Art von religiösem Pluralismus im Horizont der Pancasila entsteht. Zwei Aspekte stehen dabei im Mittelpunkt:
- Zunächst soll die konkrete religionspolitische Gesetzgebung im Blick auf die Regelung öffentlicher Religionsausübung und Bildung dargestellt werden. Angesichts der Intensivierung religiösen Lebens nach dem Ende der Suharto-Ära wird in der Gesetzgebung der politische Wille sichtbar, direkte Interaktionen der Religionen zu verringern und damit einem Nebeneinander der Religionen statt einem Miteinander den Vorrang zu geben. Trotz dieser statischen Konzipierung religiösen Pluralismus finden de facto interreligiöse Transformationsprozesse statt.
- Angesichts von sozio-politischen und demographischen Asymmetrien zwischen den verschiedenen Religionen geht es darüber hinaus um das Thema, unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen religiöse Minderheiten ihre Religionsausübung gestalten können. Exemplarisch dargestellt werden soll dies anhand der Situation von Minderheiten innerhalb der Weltreligionen, wie der Ahmadiya im Bereich des Islam und der Pfingstkirchen im Christentum.
Untersuchungsgegenstand in diesem ersten, religionswissenschaftlich angelegten Teil des Forschungsprojekts sind als Primärtexte Gesetzestexte, die die Religionsausübung regeln, und Erlasse des Religionsministeriums. Daneben soll eine qualitative Befragung von Pfarrern und Kiai (Geistliche Leiter der Koranschulen) durchgeführt werden. Sie sind als hauptamtliche Vertreter der jeweiligen Religionsgemeinschaften zentrale Figuren in der Gestaltung und der theologischen Interpretation religiöser Pluralität in Indonesien.
- In einem zweiten Schritt wird gefragt, wie sich die muslimischen und christlichen Religionsgemeinschaften theologisch zur Pancasila in Beziehung setzen. Die religiös-plurale Verfassungsrealität Indonesiens zwingt die Religionsgemeinschaften, diese Realität theologisch zu interpretieren und zu integrieren. Führende Theologen der beiden großen muslimischen Organisation Nahdlatul Ulama und Muhammadiyah haben Positionen und Perspektiven zum religiösen Pluralismus vorgelegt; ebenso auch der protestantische indonesische Kirchenrat und die katholischen Kirche.
Dieser zweite Teil untersucht theologische Entwürfe aus beiden Religionen und befragt sie auf das jeweils implizierte theologische Verständnis religiöser Pluralität hin. - In einem dritten Schritt soll untersucht werden, wie im Horizont der weltanschaulichen Grundlage der Pancasila Christen und Muslime ihr Verhältnis zueinander theologisch beschreiben. Im theologischen Diskurs über religiösen Pluralismus geht es immer auch um die konkreten Selbst- und Fremdbilder im Gegenüber zur anderen Religion - und deren Wechselwirkungen. Im Kontext der zuvor beschriebenen sozio-politischen Konstellation sollen dazu mit Hilfe der Diskursanalyse abschließend Transformationsprozesse des jeweiligen Selbst- und Fremdbildes in Christentum und Islam in Indonesien untersucht werden. Dieser dritte Teil führt religionswissenschaftliche und theologische Arbeitsweisen zusammen. Grundlage für diesen dritten Teil ist sowohl theologische Literatur als auch die Auswertung der qualitativen Interviews.