(C11) Gewaltverzicht religiöser Traditionen: Der moderne Katholizismus im Spannungsfeld von Distinktion und Integration
Die Säkularitätsstandards der politischen Moderne stehen in scharfem Kontrast zu den Herrschaftsansprüchen religiöser Wahrheitstraditionen. In Europa entzündeten sich daran zahlreiche Konflikte, insbesondere zwischen katholischer Kirche und demokratischer Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass sich der zunächst scharf antimodernistisch akzentuierte Katholizismus innerhalb weniger Jahrzehnte in den modernen Verfassungsstaat integrierte, dessen normative Grundlagen – etwa Volkssouveränität, Gewissens- und Religionsfreiheit – jedoch noch lange als ‚illegitim’ galten. Das heute zu beobachtende neue Selbstbewusstsein repolitisierter, oft militant auftretender Religionen – nicht nur im Kontext des Islam – macht deutlich, dass dieser Grundkonflikt heute keineswegs überwunden ist, sondern mindestens latent weiterwirkt.
Der Katholizismus hat mit der Erklärung zur Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils im Jahr 1965 programmatisch auf die staatlich-gewaltförmige Durchsetzung seines Wahrheitsanspruchs verzichtet. Diese wesentlich vom US-amerikanischen Katholizismus beeinflusste 'Verzichtserklärung' kann als ein in der Geschichte der Religionen geradezu exzeptioneller Akt freiwilliger Selbstbeschränkung religiöser Wahrheitsansprüche gelten, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Bis heute ist weithin unklar, wie es in einer im hohem Maße traditionsgebundenen Institution wie der katholischen Kirche zu einem derart grundlegenden Positionswandel hat kommen können. Die spezifischen Entstehungskontexte, Konfliktkonstellationen und Lernerfahrungen, die diesen Umbruch möglich gemacht haben, sind Gegenstand des interdisziplinär angelegten Forschungsvorhabens. Methodisch sind Strukturanalysen mit der Rekonstruktion von Identitätssemantiken und Weltbildern zu verknüpfen. Es ist zu prüfen, ob hier im Spannungsfeld von Religion und Moderne spezifische Strukturmuster am Werk sind, die nicht nur für den Katholizismus, sondern in ähnlicher Form auch für andere Religionsgemeinschaften – etwa für den Islam – eine Rolle spielen können. Insofern drängt sich zugleich die Anschlussfrage auf, ob dieser Selbstmodernisierung des Katholizismus im Kontext von Distinktion und Integration für das Verhältnis von Religionsgemeinschaften und politischer Moderne insgesamt eine paradigmatische Bedeutung zukommt bzw. zukommen kann.